Wenn die zwischenmenschliche Kommunikation in der Gesundheitsversorgung nicht stimmt, kann das für Patienten und Versorger gefährlich werden. Annegret Hannawa erforscht das Thema als Professorin für Gesundheitskommunikation und bildet Klinikpersonal fort, um eine sichere Kommunikation zu etablieren.
Sind es vor allem große Kommunikationspannen etwa vor operativen Eingriffen oder viele Nachlässigkeiten des klinischen Alltags, die Patienten schaden können?
Hannawa: Wir haben hunderte von Schadensfällen analysiert. Kommunikationsfehler passieren in allen Versorgungsphasen, angefangen vom Anamnesegespräch über die Diagnose, die Behandlungsplanung, bis hin zur Behandlung und Nachsorge.
Was kann beispielsweise schiefgehen?
Hannawa: Da traut sich ein Patient im Anamnesegespräch nicht, zu erzählen, dass er seine Arznei nicht wie verordnet eingenommen hat, was zu einem schwerwiegenden Medikationsfehler führt. Oder eine Pflegefachkraft traut sich nicht, die Medikationsverordnung eines kurz angebundenen Arztes in Frage zu stellen, die in der verschriebenen Dosierung für den Nierenkrebspatienten schädigend sein könnte. Oder eine Patientin interpretiert die handgeschriebene Notiz ihres Arztes „Gehen Sie vor wie besprochen“ falsch.
Laut „Weißbuch für Patientensicherheit“ (1) erfährt etwa jeder zehnte Patient in Deutschland während seines Krankenhausaufenthalts Schaden statt Heilung. In 0,1 Prozent der Fälle enden Behandlungsfehler tödlich. Lässt sich das überhaupt vermeiden?
Hannawa: Würden wir sicherer miteinander kommunizieren, dann könnten wir die Häufigkeit und den Schweregrad derartiger Schadensereignisse gewaltig reduzieren, das zeigen unsere Forschungen. Eine Mortalitätsrate von 0,1Prozent wirkt zwar gering. Doch bei jährlich 19,5 Millionen stationären Krankenhausaufenthalten in Deutschland bedeutet das, dass jährlich 19.500, täglich also 53 Patienten aufgrund von Behandlungsfehlern an deutschen Krankenhäusern sterben. Weit über 500 Patienten werden jeden Tag dadurch verletzt. Bis zu 80 Prozent dieser Vorfälle werden durch eine unsichere Kommunikation zwischen Klinikern und mit Patienten verursacht. Kommunikation darf also nicht mehr als „Soft Skill“ betrachtet werden – sie ist grundlegend für eine erfolgreiche, sichere Versorgung und muss daher dringend in der medizinischen und pflegerischen Aus- und Fortbildung ihren Platz als Kernkompetenz einnehmen.
Was sind die Hauptrisikofaktoren für eine mangelhafte Kommunikation?
Hannawa: Das Hauptrisiko liegt in ganz grundlegenden Fehlannahmen, die wir bezüglich der zwischenmenschlichen Kommunikation hegen. Und zwar in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Gesundheitsversorgung. Mangelhafte Kommunikation führt zu Krisen in Partnerschaften, zu schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen, Konflikten am Arbeitsplatz und vielem mehr ...
Prof. Dr. Annegret Hannawa zur patientensicheren Kommunikation
Was sind diese Fehlannahmen?
Hannawa: ... Wir gehen häufig davon aus, dass andere verstehen werden, was wir ihnen sagen. Und wir gehen auch fälschlicherweise davon aus, dass wir Informationen einfach durch andere Personen hindurch an den beabsichtigen Empfänger vermitteln können, ohne dass die Nachricht dabei an Qualität verliert. Und die meisten ahnen nicht, dass bis zu 93 Prozent des Inhalts einer Botschaft aus der nonverbalen Kommunikation des anderen gezogen werden, nicht aus den gesagten Worten.
Wie bitte?
Hannawa: Ja, das ist erstaunlich. Selbst bei rein faktischen Nachrichten wie beispielsweise der Wegbeschreibung zu einem nahegelegenen Restaurant, beziehen wir 65 Prozent unseres Verständnisses aus der nonverbalen Kommunikation. Bei emotionalen Inhalten, wie sie im Gesundheitswesen alltäglich sind, ziehen wir 93 Prozent unseres Verständnisses aus Gestik, Mimik, Tonfall, ... unseres Gegenübers. Egal wie fortschrittlich unsere Medizin also ist – sie bleibt eine zwischenmenschliche Begegnung. Und an diesem Treffpunkt entscheidet sich, ob Sicherheit oder Schaden entsteht.
Was können Ärzte und Pflegende tun, um ihre Kommunikation untereinander und mit Patienten abzusichern?
Hannawa: Man muss auf fünf Dinge achten, die sich in aller Kürze so zusammenfassen lassen: Wurde ausreichend, korrekt, klar, kontextbezogen und unter Beachtung der persönlichen Verfasstheit des anderen kommuniziert? Ich fasse das unter der Abkürzung SACCIA zusammen (s. Infobox). Das kann gelernt und praktiziert werden, von Klinikern und mit aktiver Beteiligung von Patienten und deren Begleitpersonen. Denn ein einheitliches Verständnis entsteht zwischen Menschen, nicht in ihnen, und somit ist eine sichere Verständigung mittels dieser sicheren Kommunikationspraxis im Gesundheitswesen unabdingbar.
Was können Patienten und Angehörige tun, um sich abzusichern?
Hannawa: Das ist momentan noch eine schwierige Frage. Wir beginnen nächstes Jahr ein Innovationsfondsprojekt, in dem wir für Patienten und Angehörige eine App entwickeln und testen, die sie in einer sicheren Kommunikation mit ihren Versorgern unterstützt. Grundsätzlich wünsche ich mir jedoch eine Kulturveränderung im Gesundheitswesen, bei der der Mensch wieder mehr in den Mittelpunkt rückt. Der Patient und der Pflegeempfänger müssen gleichwertige Akteure im Versorgungsgeschehen sein, sonst wird es gefährlich. Hierfür haben wir Hunderte von Beispielen aus der alltäglichen Praxis: Irren ist menschlich. Sicherheit entsteht zwischenmenschlich.
Das SACCIA-Modell
Aus über Tausend Schadensfallanalysen wurden fünf evidenzbasierte „Kernkompetenzen für eine sichere Kommunikation“ abgeleitet und unter dem Akronym „SACCIA“ zusammengefasst: 1. Suffizienz (‚Sufficiency’), 2. Richtigkeit (‚Accuracy’), 3. Klarheit (‚Clarity’), 4. Kontextbezug (‚Contextualization’), 5. die zwischenmenschliche Anpassung (Interpersonal Adaption’).
Die dazugehörigen Fragen sind:
1. Wurden ausreichend Informationen ermittelt oder vermittelt? 2. Wurden sie korrekt verfasst und richtig verstanden? 3. Wurde klar und präzise kommuniziert, wurden Unklarheiten aus dem Weg geräumt? 4. Wurden die Rahmenbedingungen, z.B. das zwischenmenschliche Gefüge, kulturelle Differenzen und der Zeitpunkt der Konversation im Rahmen der Versorgung des Patienten (z.B. eine bevorstehende Operation) im Gespräch berücksichtigt? 5. Sind die Beteiligten während ihres Gesprächs auf kognitive oder emotionale Bedürfnisse ihres Gegenübers eingegangen (z.B. langsamer zu sprechen, oder schlechte Nachrichten erst einmal „verdauen“ zu müssen), um ein einheitliches Verständnis sicherzustellen?
Umgesetzt werden könnte es so:
1. per Telefon sicherstellen, dass eine Nachricht angekommen und wie beabsichtigt verstanden worden ist. (S = Sufficiency/Suffizienz) 2. nachhaken, um sicherzustellen, dass das Verständnis einer empfangenen Nachricht korrekt ist. (A = Accuracy/Akkuratheit) 3. Unsicherheiten dabei ausräumen (C = Clarity/Klarheit) 4. sensibel umgehen mit zwischenmenschlichen Hierarchien oder mit dem Zeitpunkt, in dem wir miteinander kommunizieren (C = Contextualization/Kontextualisierung). 5. auf das verwirrte Gesicht eines Gesprächspartners reagieren, um sicherzustellen, dass man einander versteht. (IA = Interpersonal Adaptation / Interpersonelle Anpassung)
Prof. Dr. Annegret Hannawa ist Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Lugano, wo sie ein Kompetenzzentrum für Versorgungsqualität und Patientensicherheit leitet (www.patientsafetycenter.org). Sie bildet weltweit Personal an Kliniken für sichere Kommunikation aus. Im September 2018 erschien ihr neues Buch, gemeinsam mit Sandra Postel: „SACCIA-Sichere Kommunikation: Fünf Kernkompetenzen mit Fallbeispielen aus der pflegerischen Praxis“ im Verlag de Gruyter. Ihr Buch für Ärzte, mit Günther Jonitz, erschien letztes Jahr: „Neue Wege für die Patientensicherheit: Sichere Kommunikation.“
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