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Was kann Deutschland von den Niederlanden lernen?

Expertengespräch zur Digitalisierung im Gesundheitswesen: Was kann Deutschland von den Niederlanden lernen?

Die Niederlande werden immer als eine der führenden Nationen in Europa und sogar weltweit bezeichnet, wenn es um digitale Gesundheit geht. Eine Eigenschaft und Qualität, die nicht unbedingt mit dem deutschen Gesundheitssystem verbunden ist.

Rainer Herzog, Vice President DACH bei der Strategieberatung Research2Guidance und ehemaliger General Manager von HIMSS im Gespräch mit Jan-Eric Slot, Mitglied des niederländischen nationalen Programms "Outcome Measures for Shared Decision Making". Er war unter anderem ehemaliger CEO von SNOMED.

SNOMED – Systematisierte Nomenklatur der Medizin – eine Organisation, die mit Snowmed CT einen internationalen Terminologiestandard für Daten zur Verfügung stellt, um klinische Inhalte unabhängig ihrer Ursprungssprache weitgehend eindeutig und möglichst präzise darzustellen.

Wir teilen das Interview, das ursprünglich in englischer Sprache hier erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung.

 

Rainer Herzog: Jan-Eric Slot, Sie kennen beide Länder – die Niederlande und Deutschland – und haben einen tiefen Einblick in ihre digitalen Gesundheitsstrategien und -implementierungen. Sind die Niederlande wirklich so weit voraus, und wenn ja, was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Jan-Eric Slot: Nun, ich denke, es gibt einen Unterschied. Die Niederländer haben einen viel stärkeren Fokus auf die Implementierung und Skalierung der digitalen Gesundheit als ihre deutschen Nachbarn. Nehmen wir als Beispiel den Krankenhaussektor: Der Anteil der IT-Investitionen in niederländische Krankenhäuser liegt bei rund 3,5 Prozent pro Jahr. Mit nur 1,7 Prozent geben die deutschen Krankenhäuser derzeit etwa die Hälfte aus.

Ich sehe einen Hauptgrund für die Gesamtsituation in einer anderen Einstellung der niederländischen Bevölkerungs: Die Niederlande sind ein Land, das von Anfang an auf Zusammenarbeit und die Notwendigkeit von Kompromissen aufgebaut wurde, um das Land vor dem Wasser zu schützen und Fortschritt und Wohlstand gewährleisten zu können.

Das scheint in Deutschland grundsätzlich anders zu sein. Hier werden die Meinungen einzelner Interessengruppen oft bevorzugt und Innovationen dadurch blockiert. Die elektronische Gesundheitskarte ist wahrscheinlich ein gutes Beispiel dafür. Es begann mit vielen guten Absichten der gematik, aber die Eigenschaften und Funktionalitäten der Gesundheitskarte wurden im Laufe der Jahre immer wieder untergraben. Jetzt bleibt nur noch ein Stück Plastik mit einem Bild drauf das derzeit wohl teuerste Stück Plastik der Welt.

Rainer Herzog: Gibt es einen bestimmten Bereich, in dem die Kluft zwischen den beiden Ländern besonders groß ist?

Jan-Eric Slot: Dies hängt wahrscheinlich mit der Rolle und Position des Patienten zusammen. In den Niederlanden besteht die feste Überzeugung und Verpflichtung, dass dem Patienten alle medizinischen Daten in digitaler Form zugänglich gemacht werden müssen. Es gab nie Zweifel, dass der Patient die Kontrolle über seine medizinischen Daten haben sollte, so dass er im Laufe der Zeit mit mehr Wissen eine aktivere Rolle in Fragen zu seiner eigenen Gesundheit übernehmen kann.

Die Regierung treibt den obligatorischen Austausch von medizinischen Daten zwischen Leistungserbringern und Patienten voran und hat auch einen Rahmen für die Einrichtung sogenannter "Personal Health Environments" geschaffen. Jede dieser Umgebungen basiert auf einer persönlichen Gesundheitsakte und muss nach definierten Standards zertifiziert werden, einschließlich Pflegeverfahren und Messungen der Patientenergebnisse (PROM's).

Rainer Herzog: Wenn wir gerade beim Thema Regierungen sind – wie würden Sie die unterschiedlichen Rollen und Ansätze bei der Digitalisierung in Deutschland und den Niederlanden beschreiben?

"Aber im Gegensatz zu Deutschland bietet sie [die Politik] nur den Rahmen für die digitale Gesundheit und überlässt die Implementierung den verschiedenen Interessengruppen."

Jan-Eric Slot: In den Niederlanden hat das Ministerium für Gesundheit, Soziales und Sport sehr früh die Rolle eines Moderators und Vermittlers übernommen – und das mit bemerkenswertem Erfolg. Alle Interessengruppen im Gesundheitswesen (von Patienten über Versicherer bis hin zu KLeistungserbringern) treffen sich alle zwei Monate im Ministerium, um sich auf digitale Themen zur Behandlung und Umsetzung zu einigen – und alle Beteiligten verpflichten sich zu den getroffenen Entscheidungen.

Ich denke, dass die Regierung frühzeitig verstanden hat, dass sie bei der Entwicklung der digitalen Gesundheitsagenda eine führende Rolle spielen muss. Aber im Gegensatz zu Deutschland bietet sie nur den Rahmen für die digitale Gesundheit und überlässt die Implementierung den verschiedenen Interessengruppen. Ich vermute, dass die Deutschen viel eher geneigt sind, einen Masterplan zu entwickeln, der bis zum letzten "bolt and screw" definiert ist, was sich in einem so komplexen Umfeld leider als eher ineffektiv erwiesen hat.

Rainer Herzog: Hat sich die niederländische Regierung nur auf die Ermöglichung beschränkt oder auch die digitale Umsetzung beziehungsweise bestimmte Vorhaben finanziert?

Jan-Eric Slot: Ja, in der Tat – das niederländische Ministerium hat in der Vergangenheit eine Reihe von Initiativen in ihrer Anfangsphase unterstützt, um sie mit "Impulsfinanzierung" auf den Weg zu bringen. Dies gilt beispielsweise für die bereits erwähnten persönlichen Gesundheitsumgebungen (die Anbieter der persönlichen Gesundheitsumgebungen werden für jeden Patienten, der abonniert, unterstützt) oder für die Förderung der Interaktion zwischen Patienten und ihren Leistungserbringern durch die gewährleistete Verfügbarkeit der Daten. Dabei verfolgt das Ministerium einen "Zuckerbrot und Peitsche"-Ansatz ähnlich dem des Meaningful Use Program in den USA: Ein Krankenhaus kann bis zu 1 Million Euro an finanzieller Unterstützung erhalten, muss aber das Geld zurückzahlen, wenn es zum Auditzeitpunkt (Juni 2018 und Dezember 2019) keine erfolgreiche Umsetzung nachweist.

Rainer Herzog: In Deutschland setzt sich der aktuelle Gesundheitsminister viel stärker für die Digitalisierung ein als seine Vorgänger. Er hat nun eine Gesetzesinitiative gestartet, die eine Reihe von Punkten umfasst, darunter auch die folgenden:

 

 

  • Medizinische Apps sollen leichter erstattungsfähig werden;
  • Elektronische Patientenakten müssen von den Krankenkassen bis spätestens 2021 zur Verfügung gestellt werden;
  • Noch im selben Jahr müssen die Krankenhäuser an die Telematikinfrastruktur angeschlossen werden;
  • Niedergelassene Ärzte werden unter einer Senkung ihrer Vergütung leiden, wenn sie bis 2020 keine Verbindung zur IT-Infrastruktur herstellen.

Darüber hinaus hat der Minister einen "Health Innovation Hub" gegründet. Reicht das aus, damit das Land aufholen kann?

Jan-Eric Slot: Nun, obwohl viele Details darüber, wie die Initiativen funktionieren sollen, noch fehlen, sieht es so aus, als würden sich die Dinge endlich ändern. Wenn sie wirklich umgesetzt werden können, sollte dies der digitalen Gesundheitsreise Deutschlands einen wesentlichen Impuls geben.

Ich hoffe wirklich, dass der Minister in der Lage ist, dies im Parlament durchzusetzen und dass die verschiedenen Maßnahmen nicht wieder von den verschiedenen Interessengruppen minimiert werden (wie es bei der digitalen Krankenversicherungskarte der Fall war).

Wichtig bei dieser gesamten „Transition“ wird es sicherlich sein, eine Art gemeinsamen Konsens und die Bereitschaft zu erreichen, die Vorteile von „digital health“ anzuerkennen und zu nutzen und sie über die individuellen Anliegen zu stellen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die derzeit eingeleiteten Initiativen ein Flickenteppich bleiben und das System nicht auf einer breiteren Basis und innerhalb einer angemessenen Zeitspanne transformiert wird. Es ist sicherlich gut, einen "Health Innovation Hub" zu haben, aber diese Innovationsbemühungen müssen vom System, seinen Interessengruppen und der Kultur begleitet werden, um erfolgreich zu sein.

Rainer Herzog: Worauf sollten wir uns in Deutschland konzentrieren?

Jan-Eric Slot: Für mich beginnt es immer mit den Patienten. Die Bereitstellung klinischer Daten für Patienten und der Zugang zu ihren persönlichen Gesundheitsdaten steht im Mittelpunkt jeder digitalen Transformation. In Deutschland ist dies weniger eine technische als eine kulturelle Herausforderung.

Darüber hinaus könnten sich Behörden und Akteure zunächst stärker auf Dienstleistungen konzentrieren, die kurzfristige Auswirkungen haben (innerhalb von 6-12 Monaten) und sofortigen Nutzen für Patienten und Ärzte zeigen können. Dies trägt wesentlich dazu bei, Investitions- und Fördermittel zu erhalten und motiviert die Stakeholder, den digitalen Weg fortzusetzen und sinnvolle Veränderungen einzuleiten. Sobald diese Prioritäten festgelegt und vereinbart sind, sollte die Regierung sie mit einer ersten Finanzierung unterstützen, um sie in Gang zu bringen.

Schließlich sollten wir uns von dem monolithischen und detaillierten Masterplanansatz zu einem rahmenbasierten Konzept entwickeln, das den verschiedenen Akteuren mehr Freiheit bei der Implementierung und Ausführung digitaler Strategien gibt.

Rainer Herzog: Wenn Sie das digitale Innovations- und Gründungsklima in Deutschland und den Niederlanden vergleichen, was wären Ihre Schlussfolgerungen?

Jan-Eric Slot: Neben dem verfügbaren Investitionskapital entscheiden zwei Faktoren darüber, ob ein bestimmter Standort für Start-ups attraktiv ist: Der erste ist das Geschäftspotenzial, das ein Start-up nutzen kann, der zweite ist ein zuverlässiges rechtliches, technisches und infrastrukturelles Umfeld (auf der Grundlage internationaler Standards), das ein neuer digitaler Dienst oder eine neue digitale Lösung finden und ausbauen muss, um auf seinem Heimatmarkt und im Ausland erfolgreich zu sein. Was letzteres betrifft, so haben die Niederlande bereits ein solches Umfeld geschaffen, z.B. durch die Umsetzung der zuvor genannten zertifizierten persönlichen Gesundheitsumgebungen.

Was das mögliche Geschäfts- und Marktpotenzial betrifft, so scheinen mir die Herausforderungen in den meisten europäischen Ländern die gleichen zu sein: Start-ups müssen zeigen, dass ihre Lösungen in der Lage sind, die Ergebnisse zu verbessern und idealerweise die Kosten zu senken, um eine Rückerstattung zu erhalten. Es sieht so aus, als ob sich in beiden Ländern bestimmte Interessengruppen, wie z.B. Krankenkassen, geöffnet haben, um digitale Dienste und Lösungen zu unterstützen und in ihr Angebot zu integrieren und darüber nachzudenken, wie man neue Wege zur Bewertung der Wirksamkeit digitaler Lösungen finden kann.

Darüber hinaus kann die jüngste Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie das Land als interessanten Innovationshub für Start-ups und Investoren stärken, da sie den Marktzugang für neue digitale Dienste und Lösungen deutlich erleichtert. Für Deutschland könnte es tatsächlich eine Erfolgskombination werden: ein großer Markt kombiniert mit einem vorteilhaften Geschäftsumfeld.

Rainer Herzog: Was würde passieren, wenn Deutschland den digitalen „Gesundheitszug“ verpasst?

"Wenn Deutschland hier zurückbleibt, wird es letztlich die gesamte Volkswirtschaft und den Wirtschaftsstandort schwächen."

Jan-Eric Slot: Man muss kein Prophet sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Gesundheitskosten weiter steigen würden, während die Qualität der Gesundheitsversorgung gleichzeitig zu sinken droht. Kommende Therapieoptionen, die auf Genomik oder künstlicher Intelligenz basieren, könnten auf breiterer Basis möglicherweise nicht ohne weiteres verfügbar sein, und dies könnte die Kluft zwischen dem, was privatversicherte Patienten erhalten können, und den Leistungen, die für Patienten im öffentlichen Gesundheitswesen verfügbar sind, vergrößern.

Vor allem aber ist das Gesundheitswesen auch ein wichtiger nationaler sozioökonomischer Parameter. Wenn Deutschland hier zurückbleibt, wird es letztlich die gesamte Volkswirtschaft und den Wirtschaftsstandort schwächen.

Rainer Herzog: Was wären vor diesem Hintergrund Ihre Top-3-Empfehlungen an den deutschen Gesundheitsminister?

Jan-Eric Slot: Nun, ich schätze, der erste wäre, den Fokus zu ändern: weg von Kostensenkung und Effizienzsteigerung hin zu Wertschöpfung und Nutzen für Patienten und Ärzte. Dies ist wichtig, um einen breiteren Konsens über die Vorteile und Erträge von „digital health“ zu erzielen und auch die sozioökonomische Komponente dabei zu berücksichtigen.

Meine zweite Empfehlung wäre, einfach zu implementierende digitale Lösungen zu priorisieren. Diese können eher "Low-Tech" sein, müssen aber kurzfristige Auswirkungen und Nutzen für Patienten und Ärzte zeigen.

Schließlich denke ich, dass die Regierung ihren Weg fortsetzen und digitale Infrastrukturen nachdrücklich unterstützen sollte, die es allen Bürgern ermöglichen, auf einfache, sichere und verständliche Weise Zugang zu ihren medizinischen Daten zu erhalten und Gesundheitsdaten zwischen den Anbietern austauschen zu können. Diese müssen natürlich auf gemeinsamen Normen und Regeln beruhen, aber ihre Umsetzung und die damit verbundenen Details werden anderen Interessengruppen im Gesundheitswesen überlassen.

Rainer Herzog: Was ist Ihre Vermutung – wo steht das deutsche Gesundheitssystem in Sachen Digitalisierung in 10 Jahren?

"Die nächste Generation von Bürgern, Patienten und Ärzten wird es nicht mehr akzeptieren, kein oder nur ein begrenztes Mitspracherecht im Behandlungsprozess zu haben oder Papierhaufen durch Krankenhauskorridore zu schieben."

Jan-Eric Slot: Ich bin ein Optimist. Mit den vom Ministerium gestarteten Initiativen ist Deutschland auf einem guten Weg. Darüber hinaus werden wie anderswo auf der Welt die Verbraucherfreundlichkeit und die Wahlmöglichkeiten der Patienten die Art und Weise verändern, wie die Gesundheitsversorgung in Zukunft stattfinden wird. Und das wird auch für Deutschland gelten. Die nächste Generation von Bürgern, Patienten und Ärzten wird es nicht mehr akzeptieren, kein oder nur ein begrenztes Mitspracherecht im Behandlungsprozess zu haben oder Papierhaufen durch Krankenhauskorridore zu schieben.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird immer mehr zum Alltag gehören. Selbst wenn die Interessengruppen im Gesundheitswesen nicht in der Lage sein sollten, sich zu ändern oder sich nicht ändern wollen, werden es am Ende die Patienten sein, die das System zu einer personalisierteren Gesundheitsversorgung führen.

Rainer Herzog: Vielen Dank Jan-Eric für diesen positiven Ausblick und dafür, dass Sie Ihre Gedanken und Erkenntnisse mit uns teilen.

Copyright Artikelbild: pencase / photocase

Fotos Herzog/Slot: Privat

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