"Health in all Policies" – ein Slogan des jungen Jahrtausends. Gesundheit in allen Bereichen mitzudenken, ist allerdings schon ein jahrhundertealter Gedanke. Rudolf Virchow, Mediziner und Politiker, kämpfte bereits während der deutschen Revolution 1848 in Berlin dafür. Heute macht sich Reinhard Busse, Mediziner und Professor für Management im Gesundheitswesen, darüber Gedanken. Eine fiktive Begegnung der beiden, in Reinhard Busses Institut im 8. Stock des Hauptgebäudes der Technischen Universität Berlin.
Virchow: Was für ein Ausblick! Wo ist meine geliebte Charité?
Busse: Der hohe graue Block dort ist die neue Zentrale unserer Charité. Anfang der 1980er erbaut. 21 Stockwerke und 14 medizinische Fachbereiche. Sie würden begeistert sein.
Virchow: Mir fiel auf der Herfahrt eine Zeitschrift in die Hände: Man beklagt, es gäbe hierzulande ein Überangebot an Krankenhäusern. Habe ich richtig gelesen? Es gibt zu viele?
Busse: Ja, wir sind weit gekommen, lieber Kollege. Kein Mensch soll heute länger als 30 Minuten fahren, um eine Klinik zu erreichen. Und das schaffen wir praktisch überall auch. Aber wir haben heute so viele Krankenhäuser, dass es nicht genug Patienten gibt, um überall in jedem Feld durch Erfahrung hohe Qualität zu liefern. Gesundheit ist heute zum riesigen Wirtschaftszweig geworden. Wir stecken viel Geld in die Behebung von Krankheiten. Das ist freilich das Gegenteil zu der Aussage: Ich will die Menschen gesunderhalten.
Virchow: Generell kann man sagen: Kein Geld ist rentabler angelegt als dasjenige, welches für die Gesundheit aufgewendet wird.
Busse: Sie meinen gesunde Lebensverhältnisse, nicht wahr? Wissen Sie, was mir an Ihnen so imponiert? Sie haben in einer Zeit, in der die Medizin mit Meilenstiefeln voran lief, gleichwohl erkannt, wie wichtig die Verhältnisse sind, die krank machen können. Sie haben die Arbeitsbedingungen und Lebensumstände der Weber in Schlesien scharf kritisiert. Sie erkannten, wie wichtig Verhältnisprävention ist, und das in einer Zeit, in der Ihr Kollege Robert Koch schon meinte, durch die Erkenntnisse der Bakteriologie andere etablierte Präventionsmaßnahmen vernachlässigen zu können. Sie selbst sprachen vom Koch’schen ‚Bazillenzirkus’. Heute laufen Ihrer beide Erkenntnisse Hand in Hand. Sie haben richtigerweise nie an ein Allheilmittel geglaubt, sondern an den ganzheitlichen Ansatz, der sämtliche Lebensumstände des Patienten berücksichtigt. Sozioökonomische Faktoren würden wir heute sagen, die gebaute Umwelt und so fort – diese Themen sind heute sehr modern.
Virchow: Das freut mich, dass Sie heute die Lebensumstände nicht außer Acht lassen – wie nannten Sie es noch gleich?
Busse: Verhältnisprävention. Es geht darum, die Verhältnisse so zu gestalten, dass der Mensch erst gar nicht erkrankt.
Virchow: Meine Rede! Ich selbst habe mich bemüht, an dem Beispiel von Oberschlesien die Notwendigkeit gründlicher Veränderungen in der Hygiene der ländlichen Wohnungen, in der Regulierung des Stromlaufs, der Entwässerung von Sümpfen und Wiesen etc. zu zeigen ... Mit Vergnügen hatte ich es daher gesehen, dass diese Erkenntnis endlich auch in der Versammlung unserer Volksvertreter zu tagen anfing, dass man einzusehen begann, wie die Fragen von der Existenz und der Gesundheit tiefer gegriffen werden müssten, als es unsere Regulative vorschrieben. Sie bemerkten: Die öffentliche Gesundheitspflege lässt sich gar nicht mehr isoliert betrachten, sie ist nicht mehr eine unpolitische Wissenschaft, die Staatsmänner bedürfen des Beistandes einsichtsvoller Ärzte. Ist dies heute der Fall?
Busse: Nun, wir haben ein Gesundheitsministerium, wo wir Ärzte und Gesundheitswissenschaftler auch mal als Sachverständige berufen werden. Mediziner arbeiten nicht nur in Kliniken und in der Forschung, sondern auch bei Krankenversicherungen, Gesundheitsämtern und in Ärztekammern. Allgemein ist das Gesundheitsbewusstsein der Menschen hoch. Andererseits wird in vielen Teilen der heutigen, organisierten Wirtschafts- und Gesellschaftszweige der Gedanke der Gesundheit noch immer nicht genügend mit einbezogen. Und dies, obwohl wir inzwischen erkannt haben, wie wichtig es ist, dass jedes Politikfeld, sei es das Umwelt-, Bildungs- oder Verteidigungsressort, Gesundheit mitdenkt. Wir nennen das ‚health in all policies’.
Virchow: Das ist mir schon lange klar. Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen ... Staat und Stadt erhalten ihren Wert nur durch die Menschen und ihre Arbeit. Aller Reichtum, alle Bedeutung der Stadt wie des Staates beruht in letzter Instanz auf der Tätigkeit ihrer Bewohner. Kann es daher einen größeren Verlust geben als den Verlust an Menschenleben? Man braucht sich gar nicht auf den humanen oder christlichen Standpunkt zu stellen, rein volkswirtschaftlich betrachtet, sind Krankheit und Tod für die Familie wie für die Gemeinde und den Staat Unglücksfälle. Sie soweit als möglich fernzuhalten ist eine der ernstesten Aufgaben, welche nur da verkannt werden kann, wo Menschenleben überhaupt nichts wert sind. [...] Der Staat, welcher die allgemeine Bildung anstrebt, sollte auch die allgemeine Gesundheit anstreben.
Busse: Der Gedanke ist noch immer aktuell. Nur leider haben wir auch heute noch nicht gelernt, Krankheiten zu verhüten, sondern therapieren sie lieber und geben dabei weltweit rund zehn Prozent unseres Geldes aus.
Virchow: Auch meine Politik war die der Prophylaxe; meine Gegner haben die der Palliative vorgezogen. Das Leben und die Gesundheit von Hunderttausenden galt ihnen nichts, wenn die Bequemlichkeit und der Genuss Hunderter auf dem Spiele stand ...
Busse: Wir leben freilich in einer Zeit, in der sich die Lebensverhältnisse gegenüber Ihrer Epoche enorm verbessert haben. Sie haben ja 1859 Berlin ein Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungssystem eingeführt. Heute haben wir bis ins kleinste Dorf unterirdische Kanäle, auf keiner Straße steht mehr das Schmutzwasser. Unser Trinkwasser wird so penibel überwacht und gereinigt, dass sich dadurch niemand mehr mit einem Bakterium infizieren kann. Gesetzlich verbindliche Hygienepläne gibt es bereits für jeden Kindergarten und jede Schule ... Prävention kommt dabei Huckepack mit. Sie haben ja auch die Zustände beim Weberaufstand nicht nur aus gesundheitlichen Gründen kritisiert. Sie wollten, dass die Menschen besser leben, gute Arbeitsbedingungen haben, fair entlohnt werden.
Virchow: Prävention Huckepack – ein schönes Bild.
Busse: Sie sagten “Staatsmänner bedürfen des Beistandes einsichtsvoller Ärzte.” Was würde das in der heutigen Zeit heißen? Wie sehr sollen wir Ärzte „beistehen“, und wie sehr sollten wir – müssen wir – auf Missstände hinweisen, gerade auch wenn diese von den „Staatsmännern“ selbst verursacht worden sind? Wir diskutieren zum Beispiel die Folgen des Klimawandels aufgrund globaler Umweltzerstörungen; wie stark sollten sich Ärzte in diese Diskussion einmischen?
Virchow: Hat man eine Wahl? Als ich in Oberschlesien auf die Wohnungsmisere, die Unterernährung, das ganze hygienische Elend stieß, da wusste ich: Die Medizin hat mich unmerklich in das soziale Gebiet geführt und mich in die Lage gebracht, selbst an die großen Fragen der Zeit zu stoßen. So geht es jetzt auch Ihnen. Ich denke: Hier braucht die Weltgemeinschaft die Unterstützung einer internationalen Ärzteschaft.
Busse: Zumindest sind wir Ärzte heute als mahnende Stimmen zu hören. Sei es beim Klima oder bezüglich der Ernährung.
Virchow: Epidemien gleichen großen Warnungstafeln, an denen der Staatsmann von großem Stil lesen kann, dass in dem Entwicklungsgang seines Volkes eine Störung eingetreten ist, welche selbst eine sorglose Politik nicht länger übersehen darf ... Da gilt es zu handeln. Zu meiner Zeit gewährte die Lebensweise des Volkes die vielfachsten Anknüpfungspunkte für große Verbesserungen ... in Kleidung, Nahrung, Wohnung war unendlich viel zu reformieren. Wie ist es heute?
Busse: Wir sehen derzeit, dass nach vielen Jahrzehnten, in denen Unterernährung ein wesentliches Problem war, zunehmend Überernährung zu Krankheiten und damit Kosten führt. Auch sitzen viele Menschen zu viel. Wir haben heute ja eine ganz andere Arbeitswelt, die solch ein Verhalten mit sich bringt.
Virchow: Sollen wir da nicht an die Beziehung der öffentlichen Gesundheitspflege zu dem öffentlichen Unterricht erinnern? Nicht bloß die physische Erziehung, die Gymnastik in ihrer weitesten Ausdehnung, die Bestimmung der Unterrichtszeit gehören hierher, sondern der Unterricht selbst muss gewisse Impulse von der Medizin erhalten. Oder?
Busse: Ich finde zwar, dass wir die Schule an die Dinge anpassen müssen, die wichtig sind im Leben: Wie eröffnet man ein Konto, wie funktioniert die digitale Welt, wie lebt man gesund? Aber ob es dafür ein neues Fach braucht – da bin ich skeptisch. Vielmehr sollen Schulen den Kindern in Sachen Bewegung und Ernährung ein Vorbild sein. Weil das ja in vielen Elternhäusern auch nicht gelebt wird. Wir dürfen übrigens nicht denken „health in all policies“ bedeutet, dass Gesundheit so wichtig ist, dass es das primäre Ziel aller Politikfelder ist. Das wäre auch Quatsch. Es geht darum, bei politischen Entscheidungen Gesundheit mitzudenken: Man kann Bewegung nicht verordnen; aber man kann die Radwege so gestalten, dass die Menschen gern mit dem Rad zur Arbeit zu fahren.
Virchow: Und das wird sich dann lohnen. Die Geschichte hat es mehr als einmal gezeigt, wie die Geschicke der größten Reiche durch den Gesundheitszustand der Völker bestimmt wurden ... Statistik wird unser Richtscheid sein. Und um Ihren öffentlichen Gesundheitszustand heute, beneide ich Sie schon.
Busse: Ja, die Gesundheit der Menschen hat sich gegenüber Ihrer Zeit ungleich verbessert. Wir haben gut fünfzig Lebensjahre dazugewonnen. Krankheiten, die in Ihrer Zeit zu einem fast sicheren Tode führen, haben wir lange im Griff: Typhus, Diphterie, Tuberkulose. Die Medizin ist in Bereiche vorgedrungen, die Sie sich nicht hätten träumen lassen. Wir können Krankheiten inzwischen auf Zell-Ebene analysieren, beim einzelnen Patienten. Auch den Begriff der „evidenz-informierten Gesundheitspolitik“ gibt es, was zeigt, dass ihre Überlegung die Politik ist weiter nichts, als Medizin im Großen auch heute noch gilt. Und nun taucht am Horizont gar eine prädiktive Medizin auf, eine Medizin, die Krankheiten behandelt, bevor sie ausbrechen.
Virchow: Wie wunderlich und ehrbar.
Busse: Und dennoch jammern zu viele noch bei uns: „Wir werden immer älter und immer kränker“. Obwohl ich als Gesundheitswissenschaftler das aus den Daten nicht herauslesen kann. Es stimmt einfach nicht. Wir sind im Schnitt in jedem Lebensalter immer gesünder. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt fährt, erkennt man das auch.
Virchow: Nehmen Sie es mit Humor: Ein bisschen Kranksein ist manchmal ganz gesund.
Wir danken Rudolf Virchow, dessen Schriften bis in die heutige Zeit nachhallen. Alle kursiv gedruckten Aussagen sind Zitate, vor allem aus „Die medicinische Reform“ von 1948/49. Sie wurden nur in heutige Rechtschreibung übertragen, ggf. im Tempus angepasst und der pluralis majestatis aus der Schriftsprache in Sprechsprache übersetzt.
Ludwig Karl Virchow (13.10.1821 - 5.9.1902) gilt als Begründer der modernen Pathologie. Als einer der berühmtesten Mediziner der Berliner Charité beschrieb er als erster Thrombosen und Leukämie. Weltruhm erlangte er durch seine Studien zur Zellularpathologie. Virchow war politisch tätig und realisierte zahlreiche gemeinnützige Projekte.
Prof. Dr. med. Reinhard Busse leitet das Fachgebiet Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin und ist unter anderem Co-Director des European Observatory on Health Systems and Policies. Er arbeitet mit zahlreichen Institutionen wie OECD, Weltbank oder WHO zusammen. An der Kwame Nkrumah Universität in Kumasi in Ghana hat er jüngst den Masterstudiengang „Health Systems Research and Management“ mit aufgebaut.
Kommentare