Lesezeit: 6 min.

Wie Expeditionsschiffe auf dem Ozean

Mark C. Noe

Von einem der ‚aussichtslosesten’ Berufe, die es gibt. Oder: Wie oft kommt ein Arzneimittelforscher an sein Ziel?

Wenn ein Tischler niemals ein Möbelstück schreinerte, eine Richterin nie ein Urteil fällte, ein Chirurg nie eine OP durchführte – sie hätten ihren Beruf verfehlt. Doch wie oft kommt ein Arzneimittelforscher an sein Ziel?

Anruf in Groton, ein Hafenstädtchen im US-Bundesstaat Connecticut, eines der Zentren der Pfizer-Entwicklung und -Forschung. Am Telefon ist Mark C. Noe, Vice President für „Discovery Sciences“.

„Mark, in welchem Gebieten haben Sie bereits geforscht?“

„Ich habe in drei Therapiegebieten gearbeitet: der Krebsforschung, den Antiinfektiva und der Entzündungsforschung. Heute leite ich „Discovering Sciences“, wir stellen die Technologien in der Forschung mit kleinen Molekülen an der US-Ostküste bereit.“

„Kennen Sie Arzneimittelforscher, deren Entdeckungen nie zu einem zugelassenen Medikament wurden?“

„Ja, ich bin so einer. So wie die meisten von uns. Das ist unser Los.“

„Autsch!“

„Ich habe Teams geleitet, die mehrere Arzneimittelkandidaten bis zu Phase-II-Studien brachten, eines der Projekte kommt jetzt in Phase III. Allerdings scheitern auch zahlreiche Programme. Gründe dafür gibt es viele. Ein Projekt endete durch eine Firmenübernahme, die andere Firma hatte einen ähnlichen Wirkstoffkandidaten, der in den klinischen Studien besser abschnitt. Natürlich bin ich persönlich enttäuscht, wenn ein Programm eingestellt wird. Aber ich kann die Gründe ja jeweils nachvollziehen. Und kein Forscher möchte seinen Namen mit einer Therapie verbunden haben, die nicht so gut wirkt.“

Dies ist die Geschichte ...

... eines hochprofessionellen Scheiterns. Eines Scheiterns, das zum Erfolg dazu gehört wie die Henne zum Ei. Wenige Forschungsgebiete dürften so viele Rückschläge zählen wie die Pharmaforschung. Aber auch: Wenige dürften soviel lernen aus dem, was nicht klappt. Denn Arzneimittelforschung fährt auf einem Ozean der Möglichkeiten: Ideen über Wirkstoffe stechen wie Expeditionsschiffe in See. Wie sie gebaut sein müssen, damit sie die Insel erreichen, weiß keiner genau. Schiffsbaupläne gibt es ohne Zahl. Auch wenn Pharmaforscher hier zuhause sind: Wäre jeder Mensch auf dieser Welt ein organischer Chemiker, man könnte nicht einmal einen Bruchteil der Möglichkeiten für Wirkstoffe ausprobieren.

Hinter einem Medikament stehen zu Beginn an die 1000 chemische Startpunkte. Sie werden aus Millionen von Substanzen gefischt, die Pharmahersteller in ihren Substanzbibliotheken vorhalten. Mehr als drei Millionen solcher Stoffe bietet etwa die entsprechende Pfizer-Bibliothek. Was beim Screening ans Zielmolekül des Körpers – das ‚target’ – andockt, ist ein erster ‚hit’. Chemiker mit Namen wie Protein-Ingenieur oder Molekular-Designer optimieren die Moleküle weiter; fügen funktionelle Gruppen hinzu, nehmen andere weg oder modifizieren sie. Wissenschaftler synthetisieren aus ihren Plänen einen Wirkstoff. Nach jedem winzigen Schritt folgt eine Batterie an Tests, jahrelang, um die Eigenschaften und Vorzüge dieser chemischen Verbindung genau zu evaluieren. Die große Mehrheit potenzieller Wirkstoffe fällt hier schon raus. Und von 20 Kandidaten, die es bis in klinische Studien schaffen, fallen 19 wieder raus. Am Ende hat ein neues Medikament so viele Jahre der Rückschläge und Entwicklungsschübe auf dem Buckel wie ein Teenager. Und ging durch die Hände von um die 1600 Wissenschaftlern.

 

„Wir können zu jedem Zeitpunkt unserer langen Entdeckungsreise scheitern. Ganz am Anfang können wir schon daran scheitern, den richtigen biomolekularen Zielpunkt im Körper zu bestimmen, der vom Wirkstoff beeinflusst werden soll, etwa, weil wir die Pathophysiologie der Erkrankung noch nicht richtig verstehen. Oder wir scheitern beim Screening unserer Substanzbibliothek, etwa, weil wir bei der Planung des Versuchs von den falschen Voraussetzungen ausgehen. Wir können auch daran scheitern, Lead-Moleküle zu identifizieren, die das Zielmolekül im Körper wie gewünscht beeinflussen ... Einmal screenten wir erfolglos unsere Substanzbibliothek nach einem Stoff, der ein bestimmtes Protein im Körper aktivieren sollte. Wir hatten keine ‚hits’. Bis zwei Kollegen auf die Idee kamen, das Ziel-Protein vorab chemisch leicht zu aktivieren. Durch diese Sensibilisierung reagierte es plötzlich auf eine Substanz. Wir entwickelten sie weiter bis zum klinischen Kandidaten. Scheitern bringt uns immer wieder auf neue Wege.“

 

Scheitern ist in der Arzneimittelforschung niemals vergebene Müh’. Denn jeder Misserfolg bringt näher an den Erfolg. Jedes verabschiedete Molekülgebilde ist wie ein absplitterndes Stück an einem groben Marmorblock. So entsteht allmählich die perfekte Form. Und die Forscher bohren sich dabei immer tiefer in die Textur des Lebens und versuchen zu verstehen. Gerade auch, indem sie das Scheitern verstehen.

play Created with Sketch.

„Wann immer einem von uns etwas misslingt, wollen wir daraus lernen, um dadurch erfolgreicher zu werden. In den Neurowissenschaften beispielsweise stehen wir immer vor der Herausforderung, dass Wirkstoffe die Blut-Gehirn-Schranke überschreiten müssen. Bis vor einigen Jahren hatte unser Konzept für die molekularen Eigenschaften, die es dafür braucht, so seine Grenzen. Eine Gruppe unserer Wissenschaftler schaute sich daraufhin verschiedene Wirkstoffe für die Behandlung des zentralen Nervensystems an und analysierte ihre Moleküleigenschaften. Durch eine statistische Analyse entwickelten sie eine Bewertungsfunktion die ein relativ verlässlicher Indikator dafür ist, ob ein Wirkstoff bis ins Gehirn gelangt oder nicht. Dieser MPO-Score hat die Design-Prinzipien für Wirkstoffe, die ins Gehirn gelangen sollen, verbessert. Er hilft uns auch, Wirkstoffe zu entwickeln, die eben nicht dorthin gelangen sollen.“

 

Manchmal ist es einfach der andere Blick, der wieder vorwärts führt. Manchmal auch die Zeit. Scheitern ist in der Arzneimittelforschung niemals ein Müllhaufen gefloppter Ideen. Sondern ein Archiv des Wissens, bisweilen ein Tresor der neuen Möglichkeiten: Als in den 1970ern ein Wirkstoff-Kandidat – ein potenzielles Antifungizid – aus der Entwicklung fiel, weil es das Immunsystem dämpfte, erkannte im Dunkel dieses Scheiterns noch keiner das Licht. Erst Jahre später fiel auf, dass seine Molekülstruktur einer Substanz ähnelte, die in vorklinischen Transplantations-Studien getestet wurde. Aus der Schwäche wurde eine Stärke: Der Stoff erstand unter anderem Namen wieder auf – und wurde, eben weil er das Immunsystem bändigte, zum Medikament in der Transplantationsmedizin.

Es braucht Durchhaltevermögen, Stamina. Obwohl das medizinische Wissen riesige Sprünge macht, obwohl die Technologien immer ausgefeilter, die Screening-Verfahren immer schneller werden – ein Moore’scher Effekt wie bei Computern stellt sich nicht ein. Während sich die Rechenleistung alle zwei Jahre verdoppelt, springt die Zahl der neuen Medikamente nicht hoch. Zwar strahlen das neue Wissen und neue Technologien wie starke Scheinwerfer in die unentdeckte menschliche Biologie. Doch sie lassen nur noch mehr Komplexität und Tiefe erkennen.

 

„Wir suchen heute viel häufiger „First-in-class-Mechanismen“ als früher. Wir befinden uns also auf noch nicht erkundetem Terrain. Früher fußten wirklich bedeutsame Fortschritte oder „best-in-class“-Medikamente häufiger auf bereits bekannten Wirkprinzipien. Heute richten wir unsere Bemühungen auf medizinische Durchbrüche, was bedeutet, dass wir in Gebieten arbeiten, die noch keiner betreten hat. Da gibt es viel mehr Raum zu scheitern.“

 

Jeden Tag etwas Neues. Jeden Tag ein Hindernis. Jeden Tag wieder die Überraschung. Vielleicht ist es diese Fülle des Lebens, die Arzneimittelforscher nicht verzagen lässt. Ein Leben lang arbeiten, ohne dass sich je der eigene Name mit einem Medikament verbindet? Was braucht es, um ein Berufsleben lang in diesem Vor und Zurück zu bestehen?

 

„Wir brauchen Abenteuergeist, um immer tiefer in die menschliche Biologie einzudringen und in neuen Target-Räumen zu arbeiten. Ohne Mut und Entschlossenheit geht das nicht. Je größer die Herausforderung, desto größer unsere Chancen. Aber gleichzeitig kann man Arzneimittelforschung nicht angehen, indem man denkt, dass man alles weiß. Um offen für Entdeckungen zu sein, braucht es Demut und Offenheit für das Unerwartete. Wer glaubt, er hätte alles perfekt designt, der könnte etwas wirklich Wichtiges verpassen.“

Copyright Artikelfoto: johanssond / Photocase

Wollen Sie namentlich in der Diskussion genannt werden?

Abonnieren Sie unseren Newsletter!