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Grundlagenforschung: „Wir sind in einem unglaublichen Beschleunigungsprozess.“

Die Zukunft der Medizin und die Rolle der Grundlagenforschung: „Wir sind in einem unglaublichen Beschleunigungsprozess.“

Ohne Grundlagenforschung keine moderne Medizin. Aber die Entdeckung und Entwicklung von Neuem dauert zu lange. Jahrzehnte vergehen, damit aus einer Spur ein Wirkstoff und daraus eine Therapie werden kann. Künstliche Intelligenz, Interdisziplinarität und Ingenieurswissen können die Geschwindigkeit und die Effizienz von der Forschung bis zur Anwendung erhöhen. Das meint Prof. Dr. Dr. h.c. Matthias Tschöp. Er ist wissenschaftlicher Geschäftsführer am Helmholtz Zentrum München und hat dort nach den neuen Paradigmen der Forschung den Pioneer Campus aufgebaut.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Matthias Tschöp, wissenschaftlicher Geschäftsführer am Helmholtz Zentrum München

Kurz zusammengefasst:

  • Künstliche Intelligenz, (Ingenieurs-)Technik und Interdisziplinarität können dafür sorgen, dass das Verhältnis zwischen Scheitern und Erfolg in der Grundlagenforschung in Zukunft nicht mehr bei 90:10 liegen wird.

  •  Nach einer hochspezialisierten Phase auf Protein-Ebene, besinnt sich die medizinische Forschung auf ihre Wurzeln: die Bedeutung der Interdisziplinarität für die Erforschung neuer Zusammenhänge steht im Fokus.

  • Die nächste große Revolution in der Medizin wird die personalisierte Prävention.

  •  Daten sind Treiber des Fortschritts – aber die Qualität der Daten ist entscheidend. Und dabei ist wissenschaftliche Expertise gefragt.

Herr Prof. Tschöp, das medizinische Wissen wächst exponentiell, es wird eine Welle an Innovationen erwartet. Welche Bedeutung kommt der Grundlagenforschung dabei zu?

Exzellente Grundlagenforschung ist zentral für den Fortschritt und das haben wir nicht zuletzt mit dem Impfstoff gesehen, der ja auch nicht in den vergangenen zwei Jahren aus dem Nichts entstanden ist, sondern das Ergebnis jahrelanger Grundlagenforschung ist. Denn es ist diese extensive Vorarbeit, die überhaupt Ansätze schafft, bei denen es sich lohnt, in einer klinischen Studie zu überprüfen, ob sie bei Menschen sicher und wirksam ist.

Und wie erfolgreich ist diese Suche?

Man kann sie planen, aber die Ergebnisse nicht vorhersagen und es gehört auch immer Glück dazu. Wenn man ehrlich ist, haben wir es oft mit einem Verhältnis von 90 Prozent notwendiger Grundlagenforschung zu zehn Prozent translatierbarer Ergebnisse zu tun. Ich nehme dafür gerne das Bild der Pyramide: Man braucht ein immens großes Fundament, damit an der Spitze Impact ankommt. Natürlich wollen wir daran etwas ändern. Wir wollen schneller und effizienter werden und arbeiten an einem hoffentlich transformativen Beschleunigungsprozess.

Was sorgt für die zukünftige Beschleunigung?

In der näheren Zukunft werden wir schneller durch den breiten Einsatz künstlicher Intelligenz, die wir gerade in allen Bereichen unserer Forschung integrieren. Das gilt nicht nur für die biomedizinische Laborforschung, sondern auch zum Beispiel für die epidemiologische Forschung. Diese Kombination von unterschiedlichen Ansätzen ist eine wichtige Quelle für klinische Relevanz. Durch die Interdisziplinarität entsteht ein zusätzlicher Katalysatoreffekt.

Wie beschleunigt Interdisziplinarität die Medizin der Zukunft?

Interdisziplinarität ist ein essenzielles Element guter Forschung – das ist keine wirklich neue Erkenntnis. Das hat uns Helmholtz bereits vor 200 Jahren gelehrt. Wenn man sich mit seinen Studien beschäftigt sieht man, dass die Interdisziplinarität der Schlüssel zum Erfolg sein kann. Ich glaube, wir haben uns in der Medizin manchmal zu sehr fokussiert auf biologische Herangehensweisen zu einzelnen Molekülen oder Prozessen und dabei vernachlässigt, dass die enge Zusammenarbeit mit der Chemie, mit der Physik und mit Ingenieuren oft der Schlüssel zu bahnbrechendem Erfolg sein kann. Deshalb wählen wir nun eine neue transformierende Herangehensweise.

Ist es schwierig, WissenschaftlerInnen zur Kooperation zu bringen?

Nein, WissenschaftlerInnen sind neugierig, sonst hätten sie sich nicht auf diesen Weg gemacht. Aber man muss die Kultur dafür schaffen, dass es ihnen möglich ist, Grenzen einzureißen und über den Zaun zu schauen. Deswegen haben wir beispielsweise mit unserem neuen Pionier Campus einen Kulturwandel initiiert. Das beginnt schon bei der Rekrutierung neuer WissenschaftlerInnen: Wir suchen nicht mehr nur eine Biologin, einen Mediziner und eine Diabetesforscherin, sondern wir suchen die Hybridforscherinnen und -forscher der nächsten Generation, bei denen vielleicht eine besondere Vision oder eine Leidenschaft oder eine besondere technische Neigung besteht, die sich dynamisch in wandelnde Interessensfelder einfügen und flexible Forschungsnuklei schaffen, die mit ebenso flexiblen, komplementären Laborteams interagieren.

Und wie integrieren Sie das Ingenieurswesen bei sich am Helmholtz Zentrum München?

Wir haben für den Bereich ein eigenes Department gegründet. Hier entstehen täglich neue Instrumente, neue Sensoren, neue Bildgebung, die wir direkt in der Forschung anwenden und in die Diagnostik bringen. Dadurch versuchen wir, noch schneller und besser zu werden – dazu gehören bereits heute immer wieder neue Lösungen für die Anwendung in medizinischer Diagnostik und der Biotech-Industrie.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Die Entdeckung neuer Sensoren, über die Optoaktustik. Da gibt es Möglichkeiten, über Stoffwechselabläufe in Real Time Einblicke zu gewinnen und sie für die Forschung zu nutzen. Diese Erkenntnisse könnten gematcht werden mit anderen Daten wie beispielsweise aus der Nationalen Kohortenstudie – das ist eine der größten Langzeitstudien, die über 200.000 Individuen seit 2014 verfolgt. Bei uns liegen mehr als 20 Millionen Proben der Nationalen Kohortenstudie im sogenannten Biorepository. Sie warten quasi nur darauf, anonymisiert mit Real World Data zusammengeführt und analysiert zu werden, um eine prädiktive personalisierte Medizin der Zukunft zu entwickeln.

Prädiktive personalisierte Medizin – ist das der nächste große Schritt in der Medizin von morgen?

Ja, ich glaube, dass die nächste große Revolution gar nicht so sehr die personalisierte Therapie wird, sondern die personalisierte Prävention. Denn im Prinzip ist es doch entscheidend, möglichst viel über den eigenen Körper zu wissen – also zu wissen, ob man in fünf Jahren ein Problem mit Cholesterin bekommt oder wie hoch das persönliche Risiko ist, Diabetes zu entwickeln und dagegen frühzeitig vorgehen zu können – da wollen wir hin. Wir werden in der Lage sein, den genetischen Hintergrund in einen Kontext zu setzen mit der Umgebung, dem Lebensstil, dem Umfeld und den Umwelteinflüssen.

Voraussetzung sind ausreichend Daten in guter Qualität. Sind die bereits vorhanden?

Das ist ein riesiges Thema und wir arbeiten in verschiedenen Projekten mit, um den Datenfluss aus Institutionen und Einrichtungen der Versorgung zu harmonisieren und trotzdem den Schutz der persönlichen Daten zu gewährleisten. Aber ich bin ehrlich gesagt in Sorge, dass wir hier international noch weiter zurückfallen. Die deutsche Situation ist sehr komplex. Wir sind extrem Richtung Sicherheit orientiert – das widerspricht manchmal dem Tempo, das die Wissenschaft braucht.

Schnelligkeit ist das eine, die Qualität das andere ..

… und die Datenqualität ist ein unterschätztes Thema, dabei aber mindestens genauso wichtig: Momentan herrscht hier eine Art Goldgräberstimmung, á la: The more data the better. Aber wenn die Datenlage falsch ist, dann werden die uns falsche Antworten liefern und viele Ressourcen gehen den Bach runter. Es gehört in Medizin und Gesundheitswesen immer auch dazu, dass hervorragend ausgebildete Köpfe für die Qualität der Daten sorgen und die richtigen Fragen stellen. Das ist die Rolle der Spitzenforschung und nicht von IT-Konzernen, die Unmengen an Daten sammeln. Die meisten davon gehen nicht ausreichend in die Tiefe, um medizinisch relevante Fragenstellungen zu beantworten.

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Im Bereich von Adipositas und Diabetes haben Sie selbst maßgeblich an der Entdeckung neuer Wirkstoffe mitgewirkt. Wo stehen diese Forschungen heute?

Vor etwa 30 Jahren ist die Vision entstanden, dass gegen die Stoffwechselkrankheiten Diabetes Typ 2 und Adipositas über die Ansteuerung des Gehirns vor allem in Kombination mehrere Stoffwechselwege, die man gleichzeitig in den Fokus nimmt, etwas gelingen könnte. Über viel Trial and Error, viele Enttäuschungen und viele spannende Einsichten ging es soweit, dass wir mehrere Klassen neuer Medikamenten entdeckt haben, die sogenannten Polyagonisten. Mehrere Kandidaten befinden sich derzeit in der späten Entwicklungsphase bei einer ganzen Reihe von Unternehmen und es sieht derzeit so aus, als seien in den nächsten Jahren die ersten zugelassen und als wären sie wirksamer als alles, was es bislang gibt.

Nach 30 Jahren?

Auf der einen Seite eine Krönung für ein Forscherleben. Auf der anderen Seite zeigt es: Erfolgreiche Translation dauert. Es muss in die Köpfe: Wir müssen schneller und effizienter werden. Aber eine reine Fokussierung auf klinische Forschung wäre kontraproduktiv und auch mit den Verbesserungen, an denen wir arbeiten, werden Erfolge sich nicht innerhalb von einzelnen Legislaturperioden liefern lassen.

 

 

 

Fotos:

Porträt Prof. Dr. Dr. h.c. Tschöp: Helmholtz Zentrum München/Matthias Tunger

Artikelbild: Shutterstock

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