Alle reden von Resilienz – aber was bedeutet das eigentlich für das Gesundheitssystem von morgen? Wie sichern wir Gesundheit – in Pandemiezeiten und grundsätzlich? Dr. Ellen Ueberschär macht umfassende Vorschläge.
Dr. Ellen Ueberschär ist seit Juli 2017 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, gemeinsam mit Barbara Unmüßig. Sie ist verantwortlich für die Inlandsarbeit der Stiftung sowie für Außen- und Sicherheitspolitik, Europa und Nordamerika, die Türkei und Israel. Außerdem verantwortet sie Green Campus, das Studienwerk, die Grüne Akademie, sowie das Archiv "Grünes Gedächtnis".
Frau Dr. Ueberschär, Sie haben zu Beginn der Krise über Resilienz geschrieben – auch, dass es noch zu früh sei, Lehren daraus zu ziehen. Welche Lehren sind heute, ein Jahr später, zu ziehen?
Für eine Bilanz ist es immer noch zu früh. Aber eines bleibt deutlich übrig: War der Begriff der Resilienz jahrelang vor allem durch die Psychologie präsent, wird er nun seit einem Jahr inflationär angewandt – auf die geoökonomische Lage, auf das Gesundheitswesen, die Bildung. Überall wird nach Resilienz gerufen, und nun muss dieses Wort mit Leben gefüllt werden.
Wie kann das gelingen?
Es gibt ein Comeback des vorsorgenden Staates. Wir haben gesehen, wie verwundbar wir in systemrelevanten Bereichen sind, angefangen von den Gesundheitsämtern bis zur Erntehelferin aus dem europäischen Ausland. Wir brauchen mehr Schockabsorptionsfähigkeiten. Wir müssen Menschen und Gesellschaften gegen Unwägbares stabilisieren, um gegen Schocks und Belastungen resilient zu sein. Diese Lehre von der Vorsorge für unsere ganze Gesellschaft wird schwer umzusetzen sein.
Warum wird das schwer?
Erst einmal muss eine Verständigung in der Gesellschaft geführt werden, welche Vorsorge wir wollen. Und auch: Wie viel Infrastruktur, also öffentlichen Raum wollen und müssen wir uns gemeinsam leisten – um alle mitzunehmen und einzubeziehen? Da laufen im Moment einige Dinge schief: Da kippen Menschen buchstäblich weg, Lehrkräfte haben keinen Kontakt mehr zu ihren Schulkindern: Was passiert mit ihnen und ihren Familien, wie werden sie aufgefangen, unterstützt? Wir benötigen eine Ressourcenaufstockung für Gesundheit in einem ganzheitlichen Sinn.
Was soll der vorsorgende Staat konkret tun?
Gesundheitsämter sollten so ausgestattet werden, dass sie arbeitsfähig sind. In Berlin zum Beispiel haben wir in den letzten Jahren einer knappen Halbierung der Amtsärztinnen und Amtsärzte zugesehen. Und auf europäischer Ebene täte eine Einigung darüber gut, wie viel Produktion von Medizintechnik, Medikamenten und notwendigen Ausrüstungen wir in der EU brauchen, wie wir uns untereinander stärken können und resilienter werden. Ressourcenverteilung und -teilung ist angesagt – und nicht Grenzschließungen. Das ist ja nun das hilfloseste aller Mitteln, um das Virus aufzuhalten.
Die Grenzschließungen haben nichts gebracht?
Da eindeutige Studienergebnisse noch nicht vorliegen, muss man sagen: Vor allem haben sie Staus verursacht und berufstätigen Pendlern existenzgefährdende Schwierigkeiten gebracht. Europa bedeutet, dass Menschen zu ihrem Arbeitsplatz in einem anderen Staat fahren können, sei es in den Grenzgegenden zu Frankreich, Tschechien oder Polen. Gehen Sie zum Beispiel ins Krankenhaus in Frankfurt/Oder und schauen Sie, wie viele Pflegekräfte aus Polen kommen. Grenzschließungen sind keine Lösung. Resilienz bedeutet, dass wir handlungsfähige Krisenreaktionsmechanismen aufbauen und für gleiche Bedingungen in den Ländern sorgen. Was ist mit einer App? Erst jetzt wird überlegt, wie eine Corona-Warn-App für alle EU-Mitglieder kompatibel gemacht werden kann. Auch ein grüner Impf-Pass zum Reisen ist ein Mittel zur Stärkung der Resilienz. Es wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein …
Ist Europa in diesem Jahr gewachsen?
Zu Beginn der Pandemie, im April 2020, befanden wir uns am „Ground Zero“ der Europäisierung. Im Sommer gab es dann mit dem Rettungspaket in allerletzter Minute eine Wende zum Guten. Das rettete die Europäische Union. Wir benötigen aber mehr Commitment. Wir sind ja aufeinander angewiesen.
Gehen wir nun aus der Krise gestärkt oder geschwächt hervor?
Wir sind zum Glück nicht komplett beschädigt. Ob wir gestärkt heraustreten, wird davon abhängen, wie gut wir jetzt die zur Verfügung stehenden Mittel investieren. Resilienz heißt hier, sich auch gegen den Klimawandel zu stemmen mit klimaklugen Investitionen, aber auch die Folgen wie Wetterextreme oder Pandemien für die Menschen abzufedern.
Wie können wir besser vorsorgen, was wäre Ihr Katalog für diese Investitionen?
Mit Blick auf eine Pandemie muss zuallererst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestärkt werden. Wären die USA nicht ausgetreten und hätten stattdessen alle Kräfte darin zur Verteilung von Impfstoffen und medizinischem Gerät gebündelt, stünden wir alle heute besser da. Und auf europäischer Ebene bedarf es einer gemeinsamen Gesundheitsbehörde.
Welche Rolle spielen dabei die systemrelevanten Berufe – vor einem Jahr haben wir noch alle geklatscht – das macht heute keiner mehr …
Es gibt ein deutlich gestiegenes Bewusstsein, dass bei der Aufwertung des Pflegepersonals etwas passieren muss – obwohl eine wirklich bessere und angemessenere Bezahlung vorerst gescheitert ist. Jetzt ist es eine Frage der Entscheidung: Wie viele Ressourcen fließen in das Gesundheitswesen?
Und um welche Teilsysteme über das Gesundheitssystem hinaus muss sich der neue vorsorgende Staat kümmern?
Ein weiteres ist das Bildungs- und Wissenschaftssystem. Wir werden als Gesellschaft überhaupt nicht resilient sein, wenn wir zu wenig Forschung und Entwicklung haben. Deutschland befindet sich global gesehen auf dem vierten Platz der Gesamtausgaben, aber misst man die Ausgaben für Bildung und Forschung prozentual am Bruttoinlandsprodukt, fallen wir zurück. Und unsere Bildung muss so ausgebaut werden, dass sie wirklich Teilhabe ermöglicht: Wir brauchen gute Schulen, gute Kitas, um den jungen Menschen möglichst viele Kompetenzen und Chancen mit auf den Weg zu geben, damit sie die Herausforderungen der Zukunft bewältigen können.
Was ist eine gute Schule?
Eine Schule, in der jedes Kind gesehen und in seinen individuellen Begabungen bestmöglich gefördert wird. In der es ihm ermöglicht wird, einen Abschluss zu machen, in der die Frage der Herkunft oder Hautfarbe keine Rolle spielt.
Warum ist Bildung für Sie die zweite Säule jener Infrastruktur, die uns vor einer Pandemie schützen soll?
Weil sich dies am allerwenigsten von allein erledigt. Das ist eine Aufgabe der Gemeinschaft. Bei wirtschaftlicher Tätigkeit zum Beispiel gibt es immer einen Antrieb, Menschen wollen da vorangehen. Schulen ticken anders, vor allem, wenn sie jeden mitnehmen sollen.
Wenn jetzt Herr Spahn bei Ihnen anrufen würde und Sie fragte: Bitte skizzieren Sie mir die ideale Gesundheits-Infrastruktur der Zukunft – was würden Sie ihm aufschreiben?
An Geld mangelt es grundsätzlich nicht. Die Frage ist vielmehr, ob es effizient ausgegeben wird und alle darin vorkommen. Ich würde ihm eine Bürgerversicherung aufschreiben, in der alle einen ihnen angemessenen Beitrag zahlen und die gleiche Leistung erhalten. Und ich würde für die Infrastruktur einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff anwenden, denn Gesundheit ist ja nicht die Abwesenheit von Krankheit. Sie fängt an bei Prävention – da sind wir wieder bei den Schulen, in denen sowas möglichst früh thematisiert werden kann. Mit dem Blick auf die Fläche wird auch klar, dass es Regionen gibt, in denen die Krankenhäuser zu weit weg sind und die Versorgung schwierig ist. Für eine Resilienz muss all dies breiter aufgestellt sein. Ideal wäre der Aufbau von Gesundheitsregionen, die Versorgungssicherheit schaffen, die koordinieren und den regionalen Akteuren, die ihre Region kennen, eine stärkere Rolle zuweisen, denn Daseinsvorsorge muss auf dem Land genauso wie in der Stadt funktionieren.
Gesundheit als Querschnittsthema, also Health in all Policies: Postuliert wird es viel. Wie weit sind wir wirklich bei der Umsetzung?
Dafür müssen wir erstmal die Perspektive dafür einnehmen. Schauen wir uns zum Beispiel das Verkehrswesen an: Welche Rolle spielt Gesundheit bei der Mobilitätswende? Bisher eine zu kleine. Luftverschmutzung, die Verlärmung der Städte und der Wegfall von öffentlichem Raum durch Straßenfraß – erst auf den zweiten Blick wird den Bürgern klar, dass all dies auch eine Frage ihrer persönlichen Gesundheit ist. Geschehen ist bisher zu wenig. Wie wäre es, wenn wir einen Gesundheits-Check „Health in all Policies“ in politische Entscheidungsprozesse integrieren? Die Umsetzung der WHO-Strategie hätte den Vorteil, auch sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen abzubauen.
Was ist möglich in den kommenden vier oder fünf Jahren?
Das haben wir doch in der Pandemie gesehen! Möglich ist vieles. Ich bleibe bei der Mobilität: Im Prinzip ist die Verkehrswende schon da: Viele überlegen sich, ob diese oder jene Reise wirklich nötig ist. Rasche Veränderungen sind möglich wie Popup-Fahrradwege für mehr Gesundheit und Sicherheit. Auf diese Erfahrungen können wir aufbauen. Vieles geht digital, das wird den Verkehr und die Straßen entlasten. Wir sind in Sachen Mobilität schon in einer neuen Normalität und werden nicht mehr so weitermachen wie im Jahr 2019.
Und was wäre in den nächsten fünf Jahren für das Gesundheitswesen machbar?
Neben der raschen Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes könnte man jetzt eine verlässliche Investitionsplanung für Krankenhäuser auf die Beine stellen – samt einer Umsetzung lange diskutierter Reformvorhaben in der Notfallversorgung und in der stationären Versorgung. Was möglich ist, hängt auch davon ab, worauf wir uns als Gesellschaft verständigen. Gesundheit wird als das höchste Gut gehandelt, zu jedem Geburtstag ist sie der meistausgesprochene Wunsch. Und das muss sich auch in einer guten, vom Patienten her gedachten Gesundheitspolitik widerspiegeln.
Foto: Shutterstock
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