Dass immer alles „normal“ bleibt, ist nicht normal: Die Corona-Pandemie hat viele Länder kalt erwischt, die sich in einer falschen Sicherheit wähnten. „Wir können uns viel besser auf Krisen vorbereiten, als bislang geschehen“, sagt der Freiburger Professor Dr.-Ing. Alexander Stolz. Am dortigen Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut, EMI, beschäftigt er sich mit Resilience Engineering, einem jungen Forschungsgebiet, das Krisen durch mathematische Modellierung abfedern will. Ein Gespräch über die Berechnung von Ausnahmefällen.
Prof. Dr. Alexander Stolz bekleidet seit November 2020 Deutschlands erste Professur für Resilienz Technischer Systeme an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er wird erforschen, wie sich die Sicherheit und Resilienz unserer Gesellschaft stärken lassen. Am Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut, EMI, in Freiburg leitet er die Abteilung Sicherheitstechnologie und Baulicher Schutz.
Herr Professor Stolz, Resilienz ist ein Konzept aus der Psychologie: Resiliente Menschen bleiben gesund, obwohl sie starken Stressoren ausgesetzt sind. Wieso beschäftigen Sie sich als Ingenieur damit?
Weil wir einen Paradigmenwechsel in der Krisenbewältigung brauchen. Bis jetzt gingen wir hier in Deutschland erstaunlicherweise davon aus, dass alles immer in normalen Bahnen bleibt und keine Krisen in großem Maßstab kommen. Das ist ein großer Irrtum. Die Schnelligkeit, mit der die Covid-19-Krise von einer lokalen Krise zu einer globalen heranwuchs, hat uns mit Nachdruck gezeigt, wie verwundbar unsere Welt in ihrer Komplexität ist. Und auch: wie schlecht wir vorbereitet sind.
Resilienz
Der Begriff wurde ursprünglich in der Baustoffkunde genutzt: Es ging darum, warum einige Holzarten plötzliche und schwere Belastungen aufnehmen konnten, ohne zu brechen. Dieses Abprallen – lateinisch „resilere“ – hat man später auf die Psychologie übertragen, wo der Begriff seither weithin geläufig ist. Er findet aber genauso Anwendung in den Ingenieurswissenschaften, der Ökonomie und Ökologie und ist gerade eines der Hauptschlagworte, wenn es darum geht, was man aus Covid-19 lernen muss.
Aber ist es nicht gerade ein Merkmal von Krisen, dass sie einen kalt erwischen?
Nicht unbedingt. Gerade in unserer extrem vernetzten Welt muss man mögliche Krisen durchdenken und sich fragen, welche Systeme oder Elemente einer Gesellschaft in diesem oder jenem Fall höchstwahrscheinlich ausfallen werden und wie sie mit anderen Systemen zusammenhängen. Es braucht beispielsweise Strom, damit man Wasser und Telekommunikation liefern kann. Strom wird aber auch mit Telekommunikation gesteuert. Wenn also eines dieser Systeme ausfällt, streut das in die anderen Systeme hinein.
Welche weiteren Vernetzungen gibt es?
Produktionsprozesse, Lieferketten, Versorgungsnetzwerke, Finanztransaktionsnetzwerke, … Man muss die Schnittstellen dieser Systeme kennen, um wirklich beurteilen zu können, was im Krisenfall passiert.
Bei den Lieferketten wurde es im Frühjahr weithin sichtbar, wie vulnerabel das System ist.
Jedes zweite Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau litt im Mai unter gravierenden Störungen der Lieferketten. Da haben wir in vielen Branchen, auch in der Pharmaindustrie, den Punkt der Lagerhaltung. Wenn für die Produktion von Medikamenten wichtige Länder wie China oder Indien zum Beispiel stark von einer Pandemie betroffen sind, muss man sich genau anschauen, was das für Europa bedeutet: Sind wir divers genug aufgestellt, dass wir aus anderen Ländern Ausfälle schnell ausgleichen können? Oder sollten wir uns eine ständige Lagerhaltung wichtiger Arzneien leisten? Das kann sich lohnen.
Kann. Es kann aber auch eine unverhältnismäßige Investition sein, gerade bei Produkten mit Verfallsdatum wie Medikamente.
Mit genau solchen Fragen beschäftigen wir uns beim Resilience Engineering. Wenn wir zum Beispiel das System der Lieferketten mit allen seinen Wechselwirkungen vollständig verstehen, können wir rechnen: Wie hoch ist der Verlust, wenn ich keine oder nur wenige Schutzmaßnahmen treffe? Wie hoch, wenn ich sie treffe? Welchen Return on Investment erhalte ich, wenn ich durch Schutzmaßnahmen mehrere Wochen Ausfallzeit verhindere? Wir errechnen das mit mathematischen Mitteln und wollen Resilienz messbar machen, im Sinn von 100 Prozent Krisenfestigkeit bis null Prozent. Dabei suchen wir mithilfe von Algorithmen den optimalen Kompromiss zwischen Effizienz und Resilienz. Aber noch ist das ein Forschungsfeld und es gibt nur wenige praxisreife Werkzeuge. Wichtig ist, dass erst einmal die richtigen Fragen gestellt werden.
Welche Fragen muss sich das Gesundheitssystem stellen?
Es muss sich jetzt ganz genau anschauen, was seine besonders kritischen Komponenten sind und wie sie funktionieren. Wenn wir beispielsweise über die Zahl der Intensivbetten diskutieren, dürfen wir nicht vergessen, dass es dafür auch Personen braucht, die die Beatmungsgeräte bedienen können. Genauso die Frage, ob es genug Medikamente für eine spezielle Behandlungsstrategie gibt. Ist sie unter allen Bedingungen gesichert? Für wie lange? Gibt es Einflussfaktoren, die das noch stören könnten? Oder die Gesundheitsämter, die eine Schlüsselrolle in der Bewältigung der Krise spielen: Wie können die weiterfunktionieren?
Was unterscheidet das Resilience Engineering von klassischen Risikoanalysen?
Die allgemeine Risikobetrachtung schaut sich konkrete Ereignisse wie einen Generalstreik oder eine Naturkatastrophe an und bildet dann das mathematische Produkt aus der Eintrittswahrscheinlichkeit und den Konsequenzen. Ist ein Ereignis sehr selten, kommt ein geringeres Risiko heraus, als wenn es häufiger ist, selbst bei großen Konsequenzen. Das Resilience Engineering geht hingegen nicht von der äußeren Bedrohung und deren Wahrscheinlichkeit aus, sondern schaut direkt aufs System: Wo sind im System die Fragilitäten? Was ist so verwundbar, dass es das Gesamtsystem zum Versagen bringen kann? Diese Komponente, diesen Prozess muss man dann härten. Da die Systeme heute so komplex sind, ist das nicht immer offensichtlich.
Muss man mehr ausgeben, um sicherer zu sein? Gehen Globalisierung, Wirtschaftlichkeit und Resilienz überhaupt unter einen Hut?
Resilienz bedeutet Investition, aber ohne sie ist der Schaden womöglich höher. Ein auf bis auf die letzte Stelle hinterm Komma auf Effizienz getrimmtes System ist verwundbar. Wichtig ist, dass wir in all diesen Bereichen die Auswirkungen aufeinander verstehen: Globalisierung kann mich krisenfester machen, indem sie Redundanzen schafft – ich habe beispielsweise die Möglichkeit, im Krisenfall auf andere Zulieferer zu setzen. Andererseits wird ein Unternehmen sehr störungsanfällig, wenn die Prozesse weltweit verteilt sind und man alles nur noch just in time anliefern lässt.
Was braucht eine Gesellschaft, um resilient zu sein?
Robustheit: Die Komponenten und Prozesse sollten so ausgelegt werden, dass sie ein Mindestmaß an Störungen tolerieren können. Duktilität: Die Systeme und Prozesse sind so ausgelegt, dass sie nicht plötzlich komplett versagen, sondern langsam in der Leistung herunterfahren. Die besagten Redundanzen und breit gestreute Ressourcen. Und Einfallsreichtum und schnelles Reagieren: In Krisensituationen sollte man sich darauf fokussieren, interdisziplinär neue Lösungen auch außerhalb des üblichen Bereiches zu finden. Dies ist trainierbar und erlaubt, schnell und entschlossen zu reagieren.
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