Prof. Dr. Dr. Ortwin Renn, Soziologe und international renommierter Risikoforscher, ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam. Zu der Thematik Krisen- und Risikowahrnehmung hat er 2019 das Buch: Gefühlte Wahrheiten. Orientierung in postfaktischen Zeiten (Budrich Verlag: Berlin) verfasst.
„‘Soziale Distanzierung‘ ist ein schlechtes Wort“, sagt der Nachhaltigkeits- und Risikoforscher Prof. Dr. Dr. Ortwin Renn. Einfacher und besser wäre: Abstand halten! Ein Gespräch über menschliche Reaktionsmuster auf Krisen, die Macht der Routinen und die Schlüsse, die aus Covid-19 zu ziehen sind.
Sie erforschen, wie sich Menschen in Krisen verhalten. Was passiert gerade mit uns in der „Corona-Krise“?
Aus psychologischer Sicht unterscheiden wir in Krisen drei Grundmuster: Flucht, Totstellen und Kampf. Alle drei Muster sind in uns Menschen angelegt, aber häufig dominiert das eine oder das andere Muster. Dadurch kommen wir zu drei Grundtypen: Erstens die Leute, die eher zur Flucht vor der Bedrohung neigen und sich in ihren Wohnungen verschanzen. Zweitens die Leute, die eher kämpfen wollen. Und weil sie den Feind, das Virus, nicht direkt bekämpfen können, brauchen sie Ersatzobjekte, gegen die sich ihre Aggression wendet. Chinesen. Politiker. Leute, die zu selten oder zu oft Maske tragen und so weiter. Und drittens die Leute, die glauben, die Bedrohung würde sie nicht treffen.
Die ignorieren das Geschehen?
Nein, sie halten sich für unverwundbar. Sie glauben es trifft, wenn überhaupt, nur die anderen. Sie halten die Bedrohung meist für übertrieben. Jede dieser Gruppen braucht eine andere Form der Kommunikation. Für den einen ist mehr Emotion in der Sache ganz wichtig, den anderen stört das. Dem Kampftypen zu sagen, „geh’ nach Hause und igel’ dich ein, bis neue Anweisungen kommen“, lässt ihn die Decke hochgehen. Umgekehrt dem Fluchttypen zu sagen, „geh‘ mal mit Maske zum Einkaufen“, macht ihn nervös. Am schwierigsten sind die, die sich für unverwundbar ansehen. Sie von der Gefahr einer Ansteckung zu überzeugen, ist meist vergebens, aber es hilft zu betonen, dass sie Überträger für andere sein könnten.: „Sei doch solidarisch.“ Das verfängt bei denen.
Und wie redet man mit den beiden anderen?
Dem Kampftypen muss man kommunizieren, dass man etwas tun kann. Nachbarschaftsgruppen gründen, für die Schwachen einkaufen. Sich selbst also in Szene setzen. Dem Fluchttypen muss man sagen: „Ja, es ist schon Gefahr da, aber wenn du die Regeln einhältst, bist du weitestgehend sicher.“ Die jeweiligen Informationen an die drei dominanten Reaktionstypen sind nicht kongruent, erfüllen aber den gleichen Zweck. Jeder hat eine Botschaft, die für ihn verständlich und handlungswirksam ist.
Haben Sie das der Regierung erzählt?
Klar haben wir das weitergegeben. Die Antwort war: Das wissen wir schon. Wobei man auch sagen muss: Es kann von Seiten der Politik und Behörden nicht wirklich gelingen, alle Menschen gezielt anzusprechen. Trotzdem sind auch unnötige Fehler gemacht worden. Die Wortwahl ist teilweise problematisch gewesen. Das Wort „Soziale Distanzierung“ ist fehl am Platz in einer Krise, in der die Leute gegen das Virus zusammenstehen sollen. Wir hätten da lieber von physischer oder räumlicher Distanzierung oder einfach von „Abstand halten“ sprechen sollen. Solche Feinheiten haben großen Effekt bei einem weiten Publikum.
Dennoch haben wir im großen Ganzen die „soziale Distanzierung“ gut hingekriegt. Im März herrschte sogar so ein Gefühl, die Menschen halten inne und die Welt wird eine bessere. Ging es Ihnen auch so?
Trotz einer berufsbedingten Skepsis als Sozialwissenschaftler hatte auch ich den Eindruck, dass die meisten Menschen um mich herum sorgsamer und solidarischer mit ihren Mitmenschen umgingen. Nach all dem jahrelangen Gerede um neue Achtsamkeit hatte ich erstmals das Gefühl, dass diese Achtsamkeit auch im Alltagsleben von den meisten aktiv praktiziert wurde.
Dürfen wir durch Corona sogar mit einem so genannten Overview-Effekt rechnen? Das erleben Menschen im All immer wieder: Sie sehen die Welt aus einem anderen Blickwinkel und bewerten die Dinge neu.
Es ist schwierig zu sagen, ob sich dieses Gefühl dauerhaft halten wird. Wir haben schon früher Krisen erlebt, vielleicht nicht in dem Ausmaß. Und während der Krise kam es immer wieder zu Reflektion und Einsichten, die später vergessen worden sind. Ich habe vor 30 Jahren zum Beispiel die vorliegenden Untersuchungen zum Verhalten der Menschen in der BSE-Krise analysiert. Während der Krise hatten 40 Prozent der Leute angegeben, sie würden in Zukunft auf Fleischprodukte verzichten oder zumindest weniger davon essen. Was ist passiert? Nichts. Der Fleischkonsum ist nach der Krise sogar leicht angestiegen. In der Krise selbst haben wir mehr gute Vorsätze als Möglichkeiten, sie hinterher umzusetzen. Das ist wie an Neujahr.
Warum vergessen wir unsere Vorsätze ein paar Wochen nach dem Neujahrserlebnis?
Weil unsere Routinen so mächtig sind. Sie werden nur dann über Bord geworfen, wenn man längere Zeit gezwungen ist, auf andere Verhaltensweisen auszuweichen, und die neuen Routinen genauso funktional und komfortabel sind wie die alten. Wenn ich also beispielsweise während der Corona-Krise vom Auto aufs Fahrrad umgestiegen bin und gemerkt habe, dass diese Art des Transportes insgesamt bequemer, gesünder und sogar schneller erfolgt, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich daran festhalte.
Verstehen wir Sie richtig, dass Sie nicht wirklich glauben, dass die Erfahrung der Covid-19-Pandemie einen Wandel bringen kann?
Naja, ganz so pessimistisch sehe ich es nicht. Wenn wir Glück haben, werden nach der Krise noch zwei Elemente wirken. Das erste: Den Menschen ist klarer geworden, dass auch in unserer auf Sicherheit und Absicherung ausgerichteten Gesellschaft die Verwundbarkeit größer ist, als man geglaubt hatte. Wir sind einfach davon ausgegangen, dass es solche Krisen bei uns nicht geben könnte. Dass wir immun dagegen seien. Und der zweite Punkt: Zurzeit fragen sich rund zwei Drittel der Bundesbürger, ob unser beschleunigtes Leben so immer sinnvoll ist. Dieses schneller, höher, weiter. Verbal zumindest sind die damit verbundenen Probleme bei den meisten Leuten angekommen. Sie wollen die erzwungene Entschleunigung auch nach der Krise fortsetzen.
Können wir auch Dinge lernen, die sich auf jeden Menschen direkt auswirken?
Ja. Ich kann mir beispielsweise nicht vorstellen, dass viele Unternehmen nach der Krise anordnen: Ab morgen gibt es kein Homeoffice mehr. Denn viele haben gemerkt, die Aufgaben werden auch so gut erfüllt, zum Teil sogar noch besser als vorher. Ich erwarte auch, dass dieses nervenaufreibende berufliche Reisekarussell – ich fliege jetzt mal für ein oder zwei Tage nach New York für einen Vortrag, eine Konferenz oder ein Geschäftstreffen –, dass das stark eingeschränkt wird. Dazu kommt: der Flugverkehr ist ein Schlüsselfaktor in der internationalen Ausbreitung von Viren.
Abschaffen ist sicher keine Option …
… Wir müssen uns vergegenwärtigen: Ohne Flugverkehr würden wir weder in Europa noch an anderen Orten außerhalb Chinas ein Problem mit COVID-19 haben. Über Land oder zu Schiff verbreitet sich das Virus kaum. Das sehen wir zum Beispiel im Ursprungsland der Pandemie: Im Norden Chinas gibt es so gut wie keine Infektionen. Wenn also an einem international vernetzten Ort ein neues Virus vermehrt auftritt, ist die sofortige Einstellung des Flugverkehrs die beste Präventivmaßnahme gegen eine drohende Pandemie. Man könnte die wirtschaftlichen Folgen für die betroffenen Luftlinien mit einem internationalen Resilienzfonds abfedern. Er könnte in dem Moment zum Einsatz kommen, in dem eine Epidemie ausbricht.
Sollte man sich jetzt schon auf eine mögliche weitere Pandemie vorbereiten?
In jedem Fall. Südkorea hat bis heute die Krise besonders gut überstanden. Für dieses Land war es die fünfte oder sechste Epidemie binnen zehn Jahren. Die südkoreanische Regierung hatte ein Gremium eingerichtet, das nicht nur auf die medizinischen, sondern auch auf die verhaltenspsychologischen und wirtschaftlichen Folgen der Krise vorbereitet war. Die brauchten nur eine Schublade aufmachen, und schon lag da der passende Reaktionsplan. Dazu kommt die digitale Infrastruktur, die bereits für ein Tracking der Infektionen vorbereitet war: Südkorea hatte nach neun Tagen eine Corona-Warn-App. Bei uns hat es dreieinhalb Monate gedauert. Korea konnte den Schalter sofort umlegen.
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