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"In unserem Gesundheitssystem stoßen nicht nur Menschen mit niedriger Bildung an ihre Grenzen."

Prof. Dr. Marie-Luise Dierks Portrait

Gesund bleiben, gesund werden – das ist auch eine Frage der persönlichen „Gesundheitskompetenz“. Jeder zweite Mensch in Deutschland hat einer Studie zufolge davon zu wenig. Was steckt dahinter? Ein Gespräch mit der Patientenexpertin Prof. Marie-Luise Dierks von der Medizinischen Hochschule Hannover.

 

54,3 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine ungenügende Gesundheitskompetenz – das zeigt die erste repräsentative Studie zu diesem Thema in Deutschland*. Klingt ein bisschen wie: „durchgefallen!“

Professor Marie-Luise Dierks: Man kann die Ergebnisse aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beurteilen. In der Studie wurde gemessen, wie leicht oder schwer es Menschen fällt, Gesundheitsinformationen für sich zu finden, zu verstehen, zu bewerten und schließlich anzuwenden. Wie die Daten zeigen, haben viele Menschen hier Probleme. Andererseits muss man sich jedoch auch fragen, wie einfach oder eben schwer es in unserem Gesundheitssystem überhaupt ist, Informationen zu finden und anzuwenden.

 

Deutet die Studie eher auf ein Systemversagen hin als auf persönliche Defizite von Bürgern?

Prof. Dierks: Beide Perspektiven müssen berücksichtigt werden. Nur zur Erinnerung: Etwa 2,3 Millionen Erwachsene in Deutschland sind echte Analphabeten, mindestens weitere 7,5 Millionen können nicht gut lesen und schreiben. Sie haben beispielsweise Schwierigkeiten, den Sinn eines einfachen Textes zu verstehen. Wie sollen diese Menschen Gesundheitsinformationen, die ja in der Regel auf Texten basieren, finden und verstehen? Hier ist das Bildungssystem durchaus in der Pflicht, die grundlegen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und auch Rechnen zu vermitteln – und darüber hinaus Gesundheitskompetenz-Themen zu behandeln. Gleichzeitig müssen wir im Gesundheitssystem diese Kompetenz zu einem zentralen Thema machen, bei der Versorgung und den Fähigkeiten aller Beteiligten, auch bei den Akteuren in den Krankenkassen oder der Rentenversicherung.

 

Auch Akademiker stoßen in unserem System an Grenzen: Da schreibt eine private Krankenversicherung einen Schmerzpatienten an, er möge ein bestimmtes Präparat über einen so genannten Parallel- oder Re-Import beziehen, so könne man Kosten sparen. Er fragt seinen Apotheker, der rät ab. Der Patient findet das Präparat in einer Internetapotheke, weiß aber nicht, ob er dort bedenkenlos bestellen kann ...

Prof. Dierks: Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass in einem komplexen Gesundheitssystem nicht nur Menschen mit niedriger Bildung an ihre Grenzen kommen, sondern alle Nutzerinnen und Nutzer des Systems. Allein zu verstehen, was ein Parallel- oder Re-Import bedeutet, setzt einige Recherchen voraus. Hier sind eben tatsächlich die Krankenkassen oder Krankenversicherungen gefordert, Informationen in leicht verständlicher Sprache im Sinne der Versicherten zu formulieren.

 

Was muss sich noch ändern?

Prof. Dierks: Unsere Gesundheitsinstitutionen müssen anders vorgehen. Hilfreich ist sicher das geplante Nationale Gesundheitsportal, das alle Menschen kennen und für ihre Fragen nutzen können. Hier sollten Informationen verfügbar sein, die qualitätsgesichert und verständlich sind, mit unterschiedlichen Medien und auch in unterschiedlichen Sprachen angeboten werden, im Idealfall flankiert durch die Möglichkeit, sich individuell beraten zu lassen. Der eben genannte Schmerzpatient hätte sich zum Beispiel bereits jetzt bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) beraten lassen können – dieses Angebot ist leider immer noch nicht bei allen Menschen bekannt.

Ich hoffe sehr auf den Nationalen Aktionsplan für Gesundheitskompetenz und die sogenannte Allianz für Gesundheitskompetenz in Deutschland: Hier werden Strategien und Konzepte erarbeitet, die dazu beitragen werden, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu fördern, aber auch die Gesundheitskompetenzfreundlichkeit des Gesundheitssystems.

 

Welche Beispiele zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz aus dem Ausland halten Sie für wegweisend?

Prof. Dierks: In den angelsächsischen Ländern wurde in vielen Einrichtungen das „Ask me three“-Prinzip umgesetzt. Patienten werden dort aktiv ermuntert, ihren Behandlern drei Schlüsselfragen zu stellen: Was ist mein Hauptproblem? Was muss ich tun? Warum ist es wichtig für mich, das zu tun? So etwas könnten wir in Deutschland leicht umsetzen. Wir könnten die Fragen auf Plakaten in Kliniken und Praxen aufhängen, und Menschen anregen, ihre Behandler mehr als bisher in die Informationspflicht zu nehmen. Und gleichzeitig müssen die Behandler qualifiziert werden, hier auch professionell und patientenorientiert zu antworten.

Interessant finde ich auch das Konzept der sogenannten „Open notes“ aus den USA: Alles, was in der Krankenakte steht und Ärztinnen und Ärzte über die Patienten notieren, können diese in Echtzeit mitlesen. Das erhöht die Therapietreue, verbessert die Selbstfürsorge und die Beziehung zwischen Behandlern und Patienten.

Ein weiteres Beispiel: In Großbritannien können Patienten bei einem Arzt-Patienten-Gespräch, zum Beispiel bei einem Aufklärungsgespräch über eine ernste Erkrankung, eine Audio- oder Videoaufnahme dieses Gesprächs bekommen. Wir wissen, dass Menschen in einer emotional schwierigen Situation gar nicht alle Informationen behalten können. So können sie zuhause noch mal nachhören, was die behandelnden Ärzte gesagt haben.

Generell könnten wir interaktive Medien deutlich häufiger als bisher in die Diagnostik und Therapie einbinden. Gezielte Hinweise und Empfehlungen von Behandlern für gute Medien helfen auch bei der Vorbereitung auf Arztkontakte.

 

Der Patient ist im Wortsinn ja der „Erduldende“ – jetzt soll er zunehmend zum Co-Produzenten seiner Gesundheit werden. Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel?

Prof. Dierks: Der Paradigmenwechsel hat auf dem Papier ja schon stattgefunden – der Patient als Partner ist eine allseits akzeptierte Situation. Problematisch ist leider nur, dass weder die Ärztinnen und Ärzte noch alle Patienten auf die damit verbundenen neuen Rollen so gut vorbereitet sind, dass sie eine partnerschaftliche Beziehungsgestaltung umsetzen können oder auch wollen. Dennoch: Die Zeiten sind vorbei, in denen alle Patienten den Ratschlägen von Experten blind folgten. Viele Patienten holen vor wichtigen Operationen beispielsweise eine Zweitmeinung ein, informieren sich im Internet und wollen die für sie bestmögliche Therapie bekommen.

Um hier in Zukunft noch besser voranzukommen, brauchen Patienten und Behandler allerdings bessere Informationen und mehr Transparenz im System. Nicht zuletzt brauchen die Behandelnden gute Rahmenbedingungen und Anreize, eine patientenorientierte, partnerschaftliche Beziehungsgestaltung tatsächlich umzusetzen.

 

 

Prof. Dr. rer. biol. hum. Marie-Luise Dierks leitet unter anderem den Forschungsschwerpunkt Patientenorientierung und Gesundheitsbildung sowie die Patientenuniversität an der Medizinischen Hochschule Hannover.

 

* Studie: Doris Schaeffer u. a.: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Bielfeld 2016.

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