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Wo bleibt der Aufschrei?

Prof. von Kalle Krebs Prävention

Keiner soll mehr an Krebs sterben. Undenkbar? Nein. Ein Gespräch über die ‚Vision Zero’ für Krebs mit Professor Dr. Christof von Kalle, Onkologe und Leiter des Klinischen Studienzentrums von Berlin Institute of Health und Charité. 

Jeder zweite Mensch in Deutschland erkrankt irgendwann in seinem Leben an Krebs ...

von Kalle: ... und jeder Vierte stirbt daran.  

Das haut mich vom Hocker.

Ich veranschauliche die Dimensionalität des Problems immer so: Wir versuchen ein Problem, das die Hälfte von uns betrifft und ein Viertel von uns umbringt, mit einem Fünfzehntel unserer Gesundheitsaufwendungen zu bekämpfen. Von diesen 6 bis 6,5 Prozent der Ausgaben stecken wir fast nichts in Vorbeugung, wenig in die frühe Diagnostik und das meiste in die Behandlung.  

Wenn jeder zweite Deutsche in einen Verkehrsunfall verwickelt würde, dann hätten wir einen Aufschrei.

Krebserkrankungen und das Sterben an Krebs finden halt in der Stille der Kliniken und der Häuser statt. Die Patienten liegen nicht stöhnend am Straßenrand. Würden wir an der Autobahn für jeden Todesfall durch Krebs ein Kreuz aufstellen, stünde, allein für ein Jahr, alle 57 Meter ein Kreuz.  

Ein breites Bündnis aus Gesundheitswesen, Wissenschaft und Politik hat nun ‚Vision Zero’ für Krebs ausgerufen: Keiner soll mehr an Krebs sterben. Wie kamen Sie darauf?

Wir haben uns gefragt: Wo wurden in anderen hochkomplexen Situationen Schritte unternommen, die außerordentlich erfolgreich gewesen sind, ohne, dass das Grundproblem mit einer genialen Erfindung angegangen worden wäre? Also, wo betreiben wir gesundheitlich hochriskante Dinge und schaffen es dennoch, die Opferzahlen zu reduzieren? Da stößt man auf die Bereiche ‚Luftfahrt’, ‚Arbeitssicherheit’ und ‚Verkehr’. In Schweden startete 1997 ein Verkehrssicherheitsprojekt unter dem Namen ‚Vision Zero’. Es steht Pate. Grundtreiber in Schweden war das Gefühl: Jeder einzelne Verkehrstote ist inakzeptabel. 

Warum fehlt es an dieser Entschlossenheit in Sachen Krebs?

Wir denken über Krebs noch wie einst über den Straßenverkehr, wo Verkehrsopfer lange Zeit als eine Art Blutzoll des Fortschritts galten. Wer in einem Unfall zu Schaden kam, hatte halt nicht richtig aufgepasst. Das war akzeptiert. Vision Zero hat dieses Denken umgedreht: Kein einziger dieser Todesfälle ist akzeptabel. Wenn es an einer Kreuzung zu Schwerverletzten oder Toten kommt, dann muss man sie zum Kreisverkehr umbauen, weil dort weniger schwere Unfälle entstehen. Wenn immer wieder Menschen sterben, weil sie auf die Gegenfahrbahn geraten, dann muss man eben die Fahrbahnen stärker trennen. Diese Rigorosität des Handelns müssen wir auf Krebs übertragen. Anstatt vom Menschen Perfektion und Anpassung an ein imperfektes System zu verlangen, brauchen wir ein System, das menschliche Verhaltensweisen toleriert, ohne zu Katastrophen zu führen ... 

... was im Straßenverkehr geklappt hat.

Vision Zero wurde von Schweden aus auf viele weitere europäische Länder übertragen. Die Todesfallrate ist in vielen Ländern deutlich gesunken, obgleich der Verkehr von Jahr zu Jahr stark zugenommen hat. Vorbeugung im Straßenverkehr ist normal geworden: Inzwischen hat jeder eine Warnweste im Auto liegen und zieht sie auch an, es gibt Geschwindigkeitsbeschränkungen, Fahrbahnschwellen ... Gegenüber den 1970ern ging die Todesfallrate in Europa um bis zu 90 Prozent zurück. Schweden, das Vision Zero konsequent umsetzt, hat bezogen auf die Bevölkerung die wenigsten Verkehrstoten in ganz Europa.  

Fehlt es in der Bekämpfung von Krebs an ‚Drive’, weil die Erkrankung von der Mehrheit der Menschen nicht richtig eingeschätzt wird?

Möglicherweise. Nach unserem heutigen Kenntnisstand könnten die Hälfte der Krebserkrankungen – manche sagen zwei Drittel – durch Prävention und Früherkennung vermieden werden. Aber wir tun nicht das, was wir tun könnten. Nur fünf bis zehn Prozent der Erkrankungen sind auf angeborene genetische Effekte zurückzuführen. Der Rest auf erworbene Gendefekte. Das heißt, der Lebensstil und die Umwelt spielen eine wichtige Rolle. Es geht aber nicht nur um diese äußeren Einflussfaktoren. Die Frage ist auch: Wie viel können wir Mediziner tatsächlich ausrichten? Wenn es ein gewisses Grundrisiko für eine Erkrankung gibt, dann müssen wir die Diagnostik eben so gestalten, dass wir das Krebsgeschehen so früh wie möglich erkennen.  

Stimmt es, dass vor allem diejenigen Krebsarten auf dem Vormarsch sind, auf die man einen hohen Einfluss hätte?

Bei Frauen ist die Lungenkrebsrate stark im Ansteigen begriffen. Auch die Zahl der Darmkrebserkrankungen und gynäkologischen Krebserkrankungen nimmt zu. Das sind Krebsarten, die über Vorbeugung, Vorsorge und frühe Diagnose angehbar wären. Die Fallzahlen wachsen allerdings auch durch den demografischen Wandel. 

Viele Menschen denken, wer Krebs hat, hat etwas falsch gemacht.

Solche Krankheiten sollten sich von der Schuldfrage ablösen. Wo fängt persönliche Schuld denn an? Beim subventionierten Tabakanbau der Europäischen Gemeinschaft? Bei der öffentlichen Werbung? Wenn ich mich ernähre, wie wir es in der westlichen Welt für gewöhnlich tun, bin ich dann Schuld daran, wenn ich an Darmkrebs erkranke? In Japan tritt Magenkrebs sechs- bis achtmal häufiger auf als bei US-Amerikanern. Umgekehrt leiden US-Amerikaner häufiger an Darmkrebs: Wenn Japaner in die USA auswandern, dann erkranken ihre dort geborenen Kinder mit derselben niedrigeren Häufigkeit an Magenkrebs wie US-Amerikaner. Ist nun der Japaner Schuld an seinem Krebs? Das ist eine komplett irrelevante Frage. Die Frage ist: Was können wir tun, dass es dem einzelnen Individuum leichter wird, sich gesundheitserhaltend zu verhalten? Und wie wird das System fehlertoleranter?  

Was will „Vision Zero“ konkret angehen?

Wir wollen jeden einzelnen Stein umdrehen und alles anschauen: den Lebensstil, die frühe Diagnostik, die Therapie, die Ursachenerforschung, den Studienstandort Deutschland. Wir brauchen auch eine digitale Erfassung und Vernetzung der Daten, so dass jeder Arzt und Patient verstehen kann, wie die letzten zehn Fälle gleicher Art behandelt worden sind. Krebserkrankungen sind molekular hochkomplex: Deshalb brauchen wir die Daten aus der Routinebehandlung für die Fortentwicklung und Qualitätsverbesserung von Therapien. Auch da tun wir viel zu wenig.  

Gibt es denn einfache Dinge, die sich schnell in die Praxis bringen lassen?

Ja, in jedem der genannten Bereiche. Stichwort ‚Lebensstil’: Wir Ärzte müssen den Menschen viel öfter sagen, wie wirkungsvoll schon kleine Dinge sind, etwa ein kurzer täglicher Spaziergang. Jeder könnte die  herausragenden Risiken seines Lebensstils reduzieren, es muss ja nicht gleich auf Null sein. Und in der Früherkennung gibt es Programme, die cleverer sind als das, was wir hier durchführen. Etwa das Einladungsprogramm der Niederländer zur Darmkrebsvorsorge: Das Stuhlprobenröhrchen wird samt Rückumschlag nach Hause geschickt. In Deutschland dagegen wurde jetzt ein hochkomplexes Verfahren verabschiedet, bei dem man dreimal zum Hausarzt muss ... So etwas schreckt Vorsorgewillige ab. In der molekularen Diagnostik könnten wir die Daten einzelner Patienten in Datenbanken geben und mit anderen Patienten abgleichen. So eine Art „Patients like me“. Das sind schon drei Dinge. 

Als Gesundheitsminister Jens Spahn sagte, in zwanzig Jahren müsse keiner mehr an Krebs sterben, erntete er viel Kritik. Was könnte Vision Zero denn in 20 Jahren erreichen?

„Prognosen sind schwierig, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen“ – um mal mit Karl Valentin zu sprechen. Aber: Wenn ich den Gedanken aufgebe, dass es überhaupt so kommt, werde ich das Ziel nie erreichen. Ob das zehn, zwanzig oder hundert Jahre dauern wird, ist nicht entscheidend. Ganz sicher ist, dass wir keine Fortschritte erreichen werden, wenn wir es nicht wenigstens versuchen. 

 

 

letzte Aktualisierung: Februar 2020

  1. Anonym

    Danke für diesen tollen Beitrag

    vor 4 years

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