1. Gesundheits- statt Krankheitsfokussierung
Nach wie vor ist die gesundheitliche Versorgung in Deutschland kurativ, im Sinne einer Sekundärprävention ausgerichtet, also auf die Linderung von Symptomen bedacht und die Heilung von grundsätzlich vermeidbaren Erkrankungen spezialisiert. Die Primärprävention und Gesundheitsvorsorge fristen ein Schattendasein – und das, obwohl lebensstilbedingte, nicht übertragbare Erkrankungen für eine hohe Krankheitslast verantwortlich sind. Mit guter Prävention könnten die Hälfte der Krebsfälle und 70 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindert, so das System entlastet, die Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig gesichert und enorme Kosten eingespart werden. Gesundheitsversorgung muss also stärker als bisher als Daseinsvorsorge betrachtet werden. Gesunderhaltung muss in allen Politikfeldern mitgedacht werden, in Schulen unterrichtet, im Supermarkt erleichtert werden. Auch in der Ärzt:innen-Patient:innen-Interaktion sollte Gesunderhaltung und Gesundheitskompetenz durchgängig eine Rolle spielen. Ärzt:innen sollten zu Prävention beraten und dafür ausgebildet werden und Leitlinien müssen präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen berücksichtigen.
2. Konsequente Datenverfügbarkeit und Datennutzung
Fehlende Informationen über Patienten führen heute parallel zu einer Über-, Fehl- und Unterversorgung. Wären die medizinischen Informationen zu den Patient:innen für alle Ärzt:innen einsehbar, gäbe es weniger Doppeluntersuchungen und die Versorgung würde deutlich schneller, präziser und effizienter. Ein zentraler Baustein ist noch immer der Arztbrief, das wichtigste Mittel, mit dem Ärzt:innen miteinander kommunizieren und der an Schnittstellen alle wichtigen Informationen übermitteln soll. Wurde er früher per Post verschickt, sind zunehmend Patient:innen als Boten verantwortlich, dass die Informationen ankommen. Auch die Anforderung des Briefes bei Kolleg:innen ist ein Problem: Da er aus Datenschutzgründen nicht als E-Mail versandt werden darf, muss er zu oft telefonisch angefragt, ausgedruckt und gefaxt werden. Gesundheitsplattformen wie die elektronische Patientenakte könnten und müssen hier Abhilfe schaffen. Allerdings müssen alle Daten, nicht nur Arztbriefe, sondern auch Befunde oder Medikationspläne konsequent zur Verfügung gestellt und ebenso konsequent von Ärzt:innen genutzt und aktualisiert werden – idealwerweise automatisch.
3. Menschlichkeit im Zentrum mit und trotz KI
Künstliche Intelligenz (KI) wird immer stärker Einzug in die Gesundheitsversorgung halten. Indem sie rasch riesige Datenmengen auswerten und in Echtzeit mit dem aktuellen Know-how abgleichen kann, wird sie womöglich künftig auf der Grundlage von Leitlinien, Wirkstoffen, Befunden und der Behandlungsgeschichte der Patient:innen passgenaue Diagnosen und Therapien finden. Damit wird sie in Zeiten exponentiell wachsenden medizinischen Wissens, steigender Bedarfe durch die alternde Bevölkerung und beschränkter Ressourcen ein wichtiger Helfer sein. Allerdings werden die Ärzt:innen in solch einer Zukunft immer noch diejenigen sein, die der KI die benötigten Informationen wie Untersuchungsbefunde etc. zur Verfügung stellen, damit diese überhaupt arbeiten kann. Auch müssen es die Ärzt:innen sein, die die Informationen der KI in ein schlüssiges Konzept einbetten und im Gesamtkontext der Patient:innen mit ihnen gemeinsam die für sie richtige Entscheidung treffen. Es wird weiter die menschliche Entscheidung und Erklärung brauchen, damit bestimmte Dinge Akzeptanz finden werden. Menschlichkeit muss mit und trotz KI im Zentrum stehen. Und Gradmesser darf nicht das technisch Mögliche oder Machbare, sondern muss der Wille des Patienten und das medizinisch Sinnvolle sein. Grundlegende Ziele des Gesundheitswesens sollten neben der absoluten Lebenszeit vor allem die erlebten Jahre in Gesundheit und erhaltener Eigenständigkeit sein.
4. Intuitive Patientenpfade zur intelligenten Ressourcennutzung
Unser Gesundheitssystem ist überkomplex, intransparent und überlaufen. Deshalb erleben viele Menschen zunehmend Schwierigkeiten, bei gesundheitlichen Bedarfen die für sie geeignete Stelle zu finden: Soll ich zum Hausarzt, Facharzt, in die Notaufnahme oder hilft Abwarten? So verteilen sich heute zu viele Patientenfälle ungesteuert auf dafür nicht vorbereitete Strukturen. Um Engpässe zu vermeiden und Ressourcen intelligenter zu nutzen, muss die Architektur des Systems so gestaltet sein, dass dringende Fälle schneller untersucht und behandelt werden und die Versorgungsebene der Fallkomplexität entspricht. Menschen müssen dafür möglichst intuitiv und automatisiert die für sie geeignete Ebene finden. Hierfür braucht es eine vornehmlich digitale Versorgungsstufe null, die sie telemedizinisch bei dieser Suche unterstützt, eine Brücke in alle Gesundheitsbereiche darstellt und in der sie unkompliziert Zugang zu Gesundheitsinformationen bekommen. Ein zentrales Element könnte auch ein Symptomchecker zur Selbsteinschätzung sein, um Bagatellen aus der Versorgung zu halten und die Selbsthilfe und Salutogenese der Bevölkerung zu stärken. Egal, wie: Patienten sollten gar nicht groß darüber nachdenken müssen, wohin sie mit ihrem Problem gehören und immer an der richtigen Stelle landen. Wie beim Verkehr braucht es Ampeln, Schilder und Leitplanken die sie klar leiten.
5. Vertrauen zueinander zum Dokumentationsabbau und zur effizienten Patientenversorgung
Das Arzt-Patienten-Gespräch, die Anamnese und körperliche Untersuchung sind in vielen Bereichen des Gesundheitssystems zuletzt immer stärker einer apparativen Diagonstik gewichen. Einerseits um Zeit zu sparen und so den Andrang zu beherrschen, andererseits, um sich juristisch abzusichern. Ein Ziel muss daher sein, dass Gesundheitssystem und Gesellschaft den Ärzt:innen mehr Vertrauen entgegenbringen – gerade auch bei Nichtbehandlungen,oder Nichtüberweisungen. Mit mehr Vertrauen und digitalen Lösungen muss es zudem zu einem Abbau der Dokumentation kommen: Heute verbringen zum Beispiel Ärzt:innen in Krankenhäusern oft ein Drittel bis die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Mehrfachdokumentationen, die ebenfalls größtenteils aus juristischer Absicherung bestehen und oft nicht mehr medizinisch individualisiert, sondern juristisch durchdekliniert sind. Wird dies weniger, haben Ärzt:innen mehr Zeit für Patient:innen, können länger mit ihnen sprechen – die Versorgung wird besser und effizienter, immer mehr Vertrauen entsteht.
6. Klimafreundliche und -resiliente Gesundheitseinrichtungen zum Menschenschutz
Die Klimakatastrophe wird durch ihre Folgen in den kommenden Jahren das Gesundheitssystem zunehmend belasten: Hitzewellen zum Beispiel sind für Ältere und Vorerkrankte gefährlich, etwa weil sie Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen verschlimmern oder bei Flüssigkeitsmangel zu Stürzen, kognitiven Einschränkungen oder auch Nierenversagen führen können. Aber auch zunehmende Allergien, neue Infektionskrankheiten sowie psychische Störungen werden vermehrt auftreten. Das Gesundheitssystem muss sich deshalb in der Versorgung und in der Ausstattung an die neuen Begebenheiten anpassen. Patient:innen müssen im Krankenhaus vor Hitze und Kälte geschützt werden, Ärzt:innen beispielsweise zu Hitze aufklären und Medikamente anpassen. Besser ist aber auch hier nicht kurative Medizin, sondern Vorsorge: Sechs Prozent der nationalen Treibhausgasemissionen gehen auf das Gesundheitssystem zurück. Wird es klimaneutral und nachhaltig, ist das auch Gewinn für die Gesundheit, weil weniger Krankheiten entstehen.
Dr. Moritz Völker ist Notfallmediziner und Vorsitzender des Arbeitskreises Junge Ärzte und Ärztinnen im Hartmannbund. Ziel seines Engagements ist es, die Zukunftsaussichten von jungen Ärzt:innen zu verbessern und das Gesundheitssystem nachhaltiger zu gestalten. Wie Veränderung gelingen kann, hat er gemeinsam mit Kolleginnen in einem Whitepaper und einem Positionspapier in Kooperation mit dem BKK Dachverband dargelegt.
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