Prof. Ilona Kickbusch gehört zu den weltweit führenden Experten im Bereich Public Health. Der Pandemieausbruch überraschte sie nicht. Ein Gespräch über die Kassandrarolle, über weibliche Regierungspolitik und wie die Pandemiepläne nun überarbeitet werden müssen.
Frau Prof. Kickbusch, Was Gesundheitskrisen angeht, blicken Sie auf reichhaltige Erfahrungen zurück. Haben Sie etwas Neues aus Covid-19 gelernt?
Kickbusch: Ja, mir sind zusätzliche Dimensionen klargeworden. Es ist eine globale Entwicklung, die auch die reichen Länder getroffen hat. Corona hat die Schwächen unserer Public Health-Systeme offengelegt, daher soll ja nun in Deutschland mehr Geld in die öffentlichen Gesundheitsdienste fließen, in die Datenerfassung, in die Gesundheitsämter und in die Stärkung des Robert-Koch-Instituts.
War so etwas wie diese Pandemie absehbar?
Kickbusch: Ich bin Mitglied des Global Preparedness Monitoring Boards von Weltbank und WHO, und wir hatten im vergangenen September gewarnt, dass der Welt wahrscheinlich eine Pandemie sehr bald bevorstehen wird. Doch damals wurde dem ganzen Board eher eine Kassandrarolle zugewiesen. So ernst kann es doch nicht kommen, schallte es uns aus der Politik entgegen.
Warum?
Kickbusch: Die Politik hinkt oftmals hinterher. Zwei Beispiele: Nach der Ebola-Krise 2014/2015 habe ich mit einer Gruppe im Auftrag der WHO die Fehler untersucht, die damals von der Organisation gemacht worden sind. Eine ganze Reihe unserer Empfehlungen wurde dann von der WHO umgesetzt. Aber was uns schon damals bekümmerte: Viele Länder setzen die Gesundheitsvorschriften nicht um, obwohl sie denen in einem internationalen Abkommen zugestimmt haben. Und dann gibt es Länder wie Großbritannien und USA, welche diese Vorschriften überdurchschnittlich gut befolgten – die aber durch politische Entscheidungen ihren Vorsprung verspielten und von der Pandemie jetzt härter getroffen werden.
Und das zweite Beispiel für die späte Reaktion der Politik?
Kickbusch: Ebenfalls zu spät reagiert wurde bei der Frage der Vulnerabilität von Risikogruppen: Es wird ja gern gesagt, ein Virus mache keine sozialen Unterschiede. Das stimmt so nicht. Es trifft schwächere Menschen stärker. Bei uns uns sind es Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen, in den USA und in Großbritannien Menschen, die sowieso sozial benachteiligt sind. Corona wirkt wie ein Brennglas auf unsere Ungleichheiten.
Waren wir nicht ausreichend gut vorbereitet?
Kickbusch: Jetzt wissen alle, dass es besser geht. Die Politik in Europa geht nun die Frage der Lieferketten von medizinischen Gütern an. Es muss mehr in Europa produziert werden, und dies muss solidarisch verteilt werden. Von nun an werden Lagerbestände sicherlich ernster genommen werden. Auf den ganzen Lockdown waren wir nicht vorbereitet: nicht auf die wirtschaftlichen Folgen, und auch nicht auf die sozialen wie häusliche Gewalt und Vereinsamung. Da muss mehr Bewusstsein her.
Gab es Fehler in der Kommunikation?
Kickbusch: Keine Pandemie in der Menschheitsgeschichte wurde in der Öffentlichkeit so stark diskutiert wie diese. Es ist eine unklare Lage, und noch immer wissen wir über Corona wenig. Aber die Gesellschaft verlangt Antworten! Da ist viel schiefgelaufen. In der aktuellen „Infodemie“ sind manche Experten hochgeputscht worden, die keine waren. Und die Sozialen Medien sind bei Epidemien zwar wichtig, weil sie die Bevölkerung informieren. Gleichzeitig aber wabert in ihnen die Gefahr falscher Informationen, die durch Algorithmen zusätzlich gepusht werden.
Wie kann die Kommunikation verbessert werden?
Kickbusch: In einigen Ländern klappte es besser. In Neuseeland zum Beispiel war die Premierministerin ständig präsent und hat eng mit ihren Public-Health-Experten zusammengearbeitet. Jeder Fortschritt und jede Entscheidung wurden ruhig, offen und genau erklärt. Andere Länder haben die Corona-Maßnahmen in eine Kriegsrhetorik überführt. Weibliche Regierungschefs sind damit zurückhaltender umgegangen, auch Kanzlerin Merkel.
Kampfessprüche sind eher destruktiv?
Kickbusch: Definitiv. In der Global Health gibt es zwar gewisse Traditionen, indem von „War on disease“ und „Fight against polio“ gesprochen wird. Das sind kräftige Worte, die nichts bringen. Wir wissen halt bei Corona nicht genug, und daher macht es keinen Sinn von einem „Krieg“ zu sprechen: Jede Maßnahme geschieht aufgrund eines aktuellen Wissensstandes und kann entsprechend korrigiert werden. Kriegsrhetorik simuliert eine Klarheit, die es nicht gibt.
Ist in Deutschland durch die Infodemie der Glaube an die Wissenschaft erschüttert worden?
Kickbusch: Erstmal hat die Wissenschaft eine unheimliche Sichtbarkeit bekommen. Auch die Virologen haben nicht ganz verstanden, dass das, was im Wissenschaftsbereich völlig selbstverständlich ist, also dass man sich herausfordert, sich gegenseitig hinterfragt und eben rabiat miteinander umgeht – dass sie plötzlich auf die öffentliche Debatte gezogen wurden, hinein in Talkshows. Denn die Medien sind oft auf Kontroversen hin ausgerichtet, es geht ihnen um die Aufgeregtheit.
Ähnelt das nicht den wissenschaftlichen Diskursen?
Kickbusch: Mitnichten. Denn wissenschaftliche Debatten mögen heftig geführt werden, aber es geht ihnen ums Verständnis, um eine Lösung und letztlich um einen angestrebten Konsens. Zwei Probleme prallen da aufeinander: Zum einen die Schwierigkeiten einer Öffentlichkeit, mit den Vorgehensweisen in der Wissenschaft und der Ungewissheit bei der Forschung umzugehen und zum anderen die mangelnde Kompetenz von Wissenschaftlern, mit der Medienwelt umzugehen.
Diese Situation erscheint schwer lösbar. Eine Antwort kann ja nicht sein, dass Virologen nicht mehr in Talkshows gehen.
Kickbusch: Das müssen die Wissenschaftler unter sich diskutieren, mit Hilfe der nationalen Akademien der Wissenschaften. Man spricht ja immer von der „Health Literacy“, aber kaum von „Science Literacy“. All diese Debatten um den berühmten R-Wert! Da stieg Otto Normalverbraucher nicht mehr durch. Wie kriegen wir epidemiologische Sachverhalte besser vermittelt? Das wird die große künftige Frage sein.
Am Anfang reagierten die Länder in Europa auf Corona getrennt voneinander. War das ein Fehler?
Kickbusch: Ein großer Fehler. Zwar ist ein Land durch die Verfassung verpflichtet, sich erstmal um die eigenen Bürger zu kümmern. Aber über die Rolle der EU wurden zu wenige Gedanken verschwendet. Die EU-Kommission muss bei der Pandemiebekämpfung neue und mehr Zuständigkeiten bekommen. Denn eine übergeordnete Einheit hat die sehr wichtigen Lieferketten im Blick und weiß, wer sich wie aushelfen kann; in der Summe gewinnen dadurch alle.
Soll die Kommission im Gesundheitsbereich mehr entscheiden?
Kickbusch: Da wird Deutschland wohl umdenken müssen – bisher war man nicht bereit Zuständigkeiten abgeben. Nun wird dies im Bereich von Public Health und Emergency der Fall sein müssen. Ein Auftrag für die deutsche EU-Präsidentschaft.
War die EU-Kommission zu Beginn der Corona-Krise zu leise?
Kickbusch: Das war sie, aber sie war ja auch dabei sich neu zu konstituieren. Die neuen Kommissare waren gerade dabei sich einzuarbeiten. Es fehlte die Vorbereitung. Ursula von der Leyen, die neue Kommissionschefin, ist ausgebildete Ärztin und hat den Ernst der Lage rasch erkannt. Und auch die Chance, die darin liegt: Wenn die EU sich nun handlungsfähig zeigt, wird ihr geopolitisches Gewicht stark steigen. Schon jetzt arbeitet die neue Kommission mit der WHO enger zusammen als ihre Vorgänger – zum Beispiel bei der Impfpolitik. Die alte Kommission hatte Gesundheitspolitik nicht so ernst genommen.
Was ist Ihre vorläufige Bilanz der Corona-Krise für Global Health und Health in all Policies?
Kickbusch: Viele Staaten reagierten nicht früh genug. Wichtig sind ferner die internationalen Gesundheitsvorschriften. In solchen Situationen ist die WHO sehr wichtig: Globale Zusammenarbeit ist schlicht eine Grundbedingung für erfolgreiche Pandemiebekämpfung. Die WHO braucht nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Autorität, um Informationen von den Mitgliedsländern einzufordern. Auch haben wir gelernt, dass unsere Pandemiepläne nicht mehr nur gesundheitspolitisch sein können: Es muss genau vorab durchdacht sein, was bei einem Lockdown wirtschaftlich und sozial passiert – es gibt wahnsinnig viel zu tun.
Ilona Kickbusch ist eine weltweit geschätzte und vielfach ausgezeichnete Förderin von „Global health“. Die Direktorin des „Global Health Programme“ am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf leitete zuvor das Global-Health-Programm der Yale Universität. Sie ist die Initiatorin der Ottawa Charta für Gesundheitsförderung und gestaltete „Health 2020“, den Rahmen für die europäische Gesundheitspolitik, maßgeblich mit.
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