Das Verhalten ändern oder die Verhältnisse? Ein Gespräch mit dem Präventionsforscher PD Dr. Tobias Effertz.
Wie gut ist Deutschland in Sachen Vorsorge und Prävention?
Dr. Tobias Effertz: Bei Früherkennung und Screening neuer Erkrankungen als auch beim Monitoring und der Verhinderung des Fortschreitens bestehender Erkrankungen – also der Sekundär- und Tertiärprävention – sind wir bis auf ein paar Ausnahmen sehr gut. Hier verfügt das Gesundheitswesen über eine hervorragende Infrastruktur, teils sogar über eine Überversorgung. Besonders prekär geht es allerdings in der Primärprävention zu, also dem grundsätzlichen Erhalt der Gesundheit. Da sind wir im internationalen Vergleich ein Ödland.
Woran machen Sie das fest?
Die höchsten Kostenersparnisse bei Schmerz und Leid erzielen Sie, wenn Sie frühzeitig ansetzen. Das tun wir nicht. Wir leben in einer Umwelt, in der es leichter ist, sich für das Ungesunde zu entscheiden statt für das Gesunde. Sie erhalten an jeder Ecke Zigaretten, und der Weihnachtsstrudel liegt ganzjährig im Discounter. Jeder Zweite in Deutschland ist übergewichtig oder krankhaft übergewichtig. Momentan machen die Ärzte vehement darauf aufmerksam, wie schlimm die Konsequenzen der Adipositas sind: Auf den Intensivstationen häufen sich die Fälle von Ende-20-Jährigen mit Schlaganfall. Und auch die Krebserkrankungen haben sich in ihrem Aufkommen und ihrer Inzidenz, also ihrem Erstaufschlag, deutlich verändert – und wir wissen: In vielen Fällen besteht ein Zusammenhang mit dem Lebensstil.
Warum fehlt der Mut, die Dinge zu ändern?
Politiker trauen sich nicht zu unpopulären Maßnahmen wie beispielsweise Steuererhöhungen. Dabei lehnt ein großer Teil der Bevölkerung Steuererhöhungen auf ungesunde Lebensweisen in bestimmten Kontexten, etwa bei einer gleichzeitigen Subventionierung von gesunden Produkten, nicht einmal ab; ein Teil würde dies sogar stark begrüßen.
Welcher?
Diejenigen, die bereits an den Folgen eines ungesunden Lebensstils leiden, sind für höhere Steuern auf entsprechende Nahrungsmittel. Nicht dafür sind Menschen, die diese Produkte ohnehin nicht kaufen, oder die Konsumenten, die noch nicht die Konsequenzen ihres Tuns spüren: Sie sind am stärksten gegen Erhöhungen von Steuern auf ungesunde Lebensmittel.
Was wirkt als Werkzeug der Prävention am besten: Kampagnen, Steuern oder Verbote?
Steuern sind das Lenkungsinstrument, um ungesunden Konsum einzudämmen. Mit der sukzessiven Erhöhung der Tabaksteuer seit 2002 gingen die Raucherzahlen deutlich zurück. Mexiko, ein Land mit sehr vielen übergewichtigen Menschen, besteuerte 2014 Softdrinks und hochkalorische Nahrungsmittel.
Ergebnis: ein signifikanter und robuster Rückgang der der Steuer unterfallenden Produkte. Es gibt weitere Beispiele, etwa in Großbritannien, den USA oder Frankreich, die je nach Ausgestaltung immer mehr oder weniger effektiv sind. Die Abnahme des besteuerten Produkts ist aber nahezu überall zu beobachten.
Steuerpolitik kann aber auch positive Anreize setzen: Wir könnten Gemüse und Obst gar nicht mehr besteuern und dafür Lebensmittel mit einem hohen Fett-, Salz- und Zuckeranteil statt mit 7 mit 19 Prozent Mehrwertsteuer belegen. Das könnte das Adipositas-Aufkommen um mehr als zehn Prozent senken – und dem Gesundheitssystem jährlich bis zu 3,8 Milliarden Euro sparen.
Was halten Sie von Verboten?
Das einzige Verbot, für das ich mich starkmache, ist das Verbot von Marketing für Kinder. Das wird übrigens auch von mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung unterstützt, querbeet durch alle Schichten und politischen Haltungen. Auch die Wähler der wirtschaftsnahen FDP befürworten es. Parteien könnten also Wählerstimmen hinzugewinnen, und trotzdem wird es nicht gemacht.
Und Kampagnen?
Kampagnen zielen auf den Einzelnen ab, er soll sein Verhalten ändern. Das funktioniert nicht, wenn die schöne Konsumwelt weiterhin die falschen Anreize setzt. Das jährlich ausgegebene Werbemittelbudget der Lebensmittelindustrie liegt bei etwa drei Milliarden Euro. Die Gesundheitskampagnen gegen Adipositas im niedrigen Millionenbereich ... Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist, wie gesagt, übergewichtig oder krankhaft übergewichtig. Anscheinend gelingt es ihnen nicht, mit gewöhnlichem Konsum ein Normalgewicht zu halten. Das ist ein systemischer Fehler, kein persönlicher.
Also doch Verbote?
Nein, aber das Angebot ungesunder Dinge muss reduziert werden oder schwerer zu erreichen sein. Also nicht: überhaupt keinen Alkohol mehr trinken, sondern: kein Rauschtrinken mehr. Nicht: gar kein Fleisch mehr, aber auch nicht täglich Fleisch. Das geht über den Preis. Ein weiterer Ansatz: Die Verfügbarkeit reduzieren. Nicht mehr an jeder Supermarktkasse den Zigarettenschrank.
Welche Länder gehen in Sachen Vorsorge und Prävention voran?
Australien, Neuseeland und die skandinavischen Länder machen es besonders gut: Da steht die Bevölkerungsgesundheit im Mittelpunkt. Sicher werden da auch wirtschaftliche Interessen berücksichtigt, aber man hat erkannt, dass es keinen Sinn macht, Industrien mit gesundheitsschädigenden Konsumgütern zu protektionieren. In diesen Ländern gibt es beispielsweise keine Tabakwerbung mehr, Zigaretten stecken in neutralen Verpackungen, sind hoch besteuert, und man hat das Ziel, die Bevölkerung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt rauchfrei zu haben. Das sind klare Ansagen.
Sie halten wenig von Verhaltensprävention und viel von Verhältnisprävention?
Sämtliche Bemühungen der letzten Jahrzehnte, die Adipositas in den Griff zu bekommen, haben nicht gefruchtet. Präventionskampagnen gehen von einem mündigen Bürger aus, der rational handelt, wenn er den Sachverhalt auch rational begreift. Seit den 1970er-Jahren wissen wir, dass der Mensch so nicht tickt. Selbst der ideale mündige Bürger hält eine Verhaltensänderung nicht dauerhaft durch, wenn er in einer adipogenen Umwelt steckt. Wichtig wäre, dass wir in der Verhältnisprävention endlich die notwendigen Leitplanken einziehen. Ein Paradigmenwechsel. Mein Gefühl ist: Der Stein bewegt sich. Aber sehr, sehr langsam.
PD Dr. Tobias Effertz lehrt am Institut für Recht und Wirtschaft der Universität Hamburg unter anderem über die Ökonomie von Prävention und Gesundheitsförderung und ist einer der Autoren des Drogen- und Suchtberichts für Deutschland.
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