„Wir stehen an der Schwelle zur Informationsmedizin“, sagt Professor Christopher Baum, Vorsitzender des Direktoriums vom Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Es ist ein ähnlich großer Schritt, wie einst durch die Anatomie.
WO WIR HERKOMMEN
Was macht uns als Menschen aus? In der Zeit von Caspar David Friedrich wusste man: Ungefähr 80 Organe machen den Menschen aus – diese Erkenntnis brachte die Anatomie. Rudolf Virchow erkannte im 19. Jahrhundert die Zellen als Grundlage jedes multizellulären Organismus. Heute wissen wir, dass der Mensch aus mehr als hunderttausend Milliarden Zellen besteht, das sind 1013 bis 1014 Zellen. Und jede einzelne dieser Zellen, zumindest die allermeisten, hat ein Genom, und in den Genomen sind die Informationsträger, die den Organismus ausmachen. Wir haben 20.000 Gene in drei Milliarden Nukleotiden. Sie kodieren ungefähr 150.000 mögliche RNAs, aus denen ungefähr eine Million Proteinformen entstehen können und ebenso zahlreiche Metaboliten.
Wir Menschen haben es geschafft, zu jedem Zeitpunkt im Leben eine riesige Informationsmenge zu steuern. Wir kommen auf eine biologische Gesamtinformationsmenge äquivalent zu geschätzt 1023 Byte, die uns als Mensch auf der genetischen Ebene abbildet. Das sind Zettabyte und Yottabyte – weit mehr, als heutige Computer darstellen können.
WO WIR HINWOLLEN
Heute stehen wir an der Schwelle zur Informationsmedizin. Wir können mit den modernen Methoden der molekularen Analytik das Genom entschlüsseln, das Proteom und das Metabolom. Künstliche Intelligenz hilft uns dabei, zu verstehen, was auf all diesen Ebenen passiert. Wir können mit Methoden der DNA-gerichteten Gentherapie Erkrankungen an der genetischen Wurzel packen. Wir können mit Oligonukleotiden und künstlicher RNA auf der Ebene der Transkripte angreifen und individuelle Therapieformen entwickeln. Wir können mit modernen Methoden der Künstlichen Intelligenz Strukturvorhersagen treffen und auf der Basis der Sequenz von Proteinen neue Medikamente entwickeln. Das alles findet heute schon statt.
Und wir können noch viel mehr: Wir können Daten erheben, die Mechanismen im Körper bei Krankheitsentstehung beschreiben und neues Wissen gewinnen: Vielleicht sind wir mit dem, was uns krank macht, viel mehr determiniert von dem, was wir sozial erleben und was uns kulturell ausmacht als von unserer genetischen Steuerung. Wie wir uns als Individuum erleben, hängt bei den allermeisten von uns nicht davon ab, wie ihre DNA-Sequenz aussieht, sondern wie sie ihr Leben gestalten.
Heute versuchen wir in der Medizin, über Sensorik oder strukturierte Patientenberichte (Patient Reported Outcome Measures, RPOMs) auch die Alltagswelt der Menschen genauer zu erfassen. All diese Daten müssen integriert werden, um vorherzusagen, wie man präzise eingreift. Wir erleben bereits erste Anwendungen der Präzisionsmedizin, wo wir verschiedenste Methoden haben, auf den genannten Ebenen einzugreifen.
WAS WIR DAFÜR BRAUCHEN
Die Medizin von morgen hängt enorm davon ab, wie gut wir verschiedenste Daten integrieren können und wie genau wir die individuelle Besonderheit ablesen können, gegen das, was alle anderen Menschen ausmacht. Das braucht Dateninteroperabilität. Es braucht eine neue Form der Datenwissenschaften. Wir brauchen Orte, an denen die Datenwissenschaft selbst vorankommt.
Mit dem künftigen Rahel-Hirsch-Zentrum für translationale Medizin schaffen wir ein Zentrum der genom- und datenbasierten Medizin und wollen Erkenntnisse rasch ans Klinikbett bringen. Idealerweise wird es ein Ort, an dem sich die Daten freuen, dem Leben zu dienen. ‚Hic locus est, ubi mors gaudet succurrere vitae‘ – ‚Hier ist der Ort, an dem der Tod sich freut, dem Leben zu helfen‘ – steht über der Tür zur Charité-Anatomie. Wir sind heute an der Schwelle, wo die Medizin bei der Entdeckung der Anatomie war: Erst als die Leichenspende legal wurde, konnte die empirische Wissenschaft gegründet werden. Das war die Schwelle der modernen Medizin. Wir sind heute wieder an einer Schwelle. Dafür brauchen wir Gesetze, damit die Daten sich freuen, dem Leben zu dienen: ‚Hic locus est, ubi data gaudent succurrere vitae.‘“ Ich bin zuversichtlich, dass wir derzeit als Gesamtgesellschaft gute Weichen dafür stellen.
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