Der US-Mediziner Dr. Eric Topol prognostiziert in seinem Werk „Deep Medicine: Künstliche Intelligenz in der Medizin. Wie KI das Gesundheitswesen menschlicher macht” eine Entlastung von Medizinern durch Künstliche Intelligenz und ein neues würdiges Verhältnis von Patient und Arzt. Im Folgenden ein Interview, das der Digital Health-Journalist und Autor Artur Olesch mit Dr. Eric Topol geführt hat.
Wer ist Dr. Eric Topol?
Dr. Eric Topol ist Gründer und Direktor des Scripps Research Translational Institute, das den Fortschritt in der Genomik mit digitaler Technik verbinden will und so zu einer individualisierten Medizin kommen will. Der Kardiologe hat mehrere Bücher zur Zukunft der Medizin geschrieben.
Herr Dr. Topol, Sie beklagen, dass ein Arztbesuch heutzutage mechanisch sei, Sie sagen, die Medizin sei kaputt. Kann die digitale Gesundheitsversorgung eine Antwort auf die Herausforderungen des Gesundheitswesens sein – zum Beispiel lange Wartezeiten, steigende Kosten, eine alternde Bevölkerung oder die zunehmende Belastung durch nicht übertragbare Krankheiten?
Um es klar zu sagen: Ich schlage nicht vor, dass wir die Medizin noch weiter entmenschlichen, indem wir sie ins Virtuelle verlagern. Aber wir können derzeitige Standards und Routinen entfrachten, so dass Arzt und Patient wirklich nur dann zusammenkommen, wenn es dringend ist.
Wenn sich jemand sorgt, ob er eine Harnwegsentzündung hat, einen Hautausschlag oder das Kind eine Ohrenentzündung und viele weitere nicht wirklich ernste Dinge, braucht es keinen Arztbesuch. Da reicht auch eine Videosprechstunde. So können wir Ärzten einen Teil ihrer überwältigenden Arbeitslast abnehmen. Überwältigend einfach deshalb, weil die heutigen Routinen nicht zu den Herausforderungen von heute passen, wie etwa eine alternde Bevölkerung.
Das ist allerdings nur ein Teil der Lösung, es gibt noch viele weitere. Noch immer sind Ärzte starke Tastaturbenutzer, obwohl Künstliche Intelligenz heute Stimmaufzeichnungen direkt in geschriebenen Text verwandeln kann. Befreit sie von der Tastatur! Außerdem ackern sich Ärzte durch Aufzeichnungen, um genug Informationen über einen Patienten zu erhalten, das könnten entsprechende Algorithmen für sie übernehmen.
Das sind nur einige der Wege, über die wir diese Arbeitslast an Maschinen übertragen können, so dass jeder Arztbesuch weniger Zeit kostet und weniger fehleranfällig ist und somit die gesamte Beziehung verbessert. In diesem Sinn können wir mit digitalen Werkzeugen die Menschlichkeit in der Medizin wiederherstellen.
Wird Künstliche Intelligenz Ärzten wirklich mehr Zeit schenken? Im Moment sind viele Ärzte frustriert, weil sie in unserer Computerära noch mehr Arbeit haben, weil sie rumklicken müssen, anstatt mit dem Patienten zu sprechen.
Die geschenkte Zeit kann eine Illusion sein, denn sie kann alles noch verschlimmern. Wo Produktivität und Effizienz verbessert werden, denken Entscheider womöglich: „Oh gut! Jetzt kannst du noch mehr Patienten behandeln und noch mehr Scans auswerten.” Dann werden Ärzte weiter ausgequetscht, und alles wird schlimmer. Schon jetzt stehen mehr als die Hälfte aller Ärzte vor dem Burnout, weil sie ihre Aufgabenziele nie erreichen. Mit diesem Burn-out bei Ärzten geht eine Verdoppelung der Fehlerquote einher, und schon 20 Prozent der Mediziner leiden heute unter einer klinischen Depression. Das ist ein Problem.
Die Entscheidungsträger haben Ärzte schon in einem unerträglichen Maß ausgequetscht. Es könnte auch anders laufen und Ärzte könnten sich erheben und sagen: “Das könnt ihr uns und unseren Patienten so nicht mehr antun. Wir sind in die Medizin gegangen, um Zeit für unsere Patienten zu haben, weil wir uns um sie kümmern wollen, weil wir präsent sein wollen, unsere Hände für die Untersuchung nutzen wollen, weil wir nachdenken wollen, weil wir uns empathisch um unsere Patienten kümmern wollen, weil wir Zeit haben wollen, um die Dinge mit ihnen zu besprechen.”
All dies ging in einem hohen Ausmaß verloren, wegen des Drucks. Zeit zu schenken heißt also, so viel an Maschinen abzugeben, dass die Fehlerquoten wieder sinken und es weniger Bürokratie gibt; dass Patienten mit ihren eigenen Daten arbeiten können; dass sie bei nicht so ernsten Anliegen ihre eigene Diagnose stellen können und ihre persönlichen Daten so managen, dass sie dort, wo es hilfreich ist, ausgewertet werden können. Viele KI-Funktionen können uns wieder dahinbringen, wo wir vor ein paar Jahrzehnten schon einmal waren, in die Zeit, bevor Medizin zum big business wurde.
Der Untertitel Ihres neuesten Buchs heißt: „Wie Künstliche Intelligenz das Gesundheitswesen wieder menschlich machen kann.” Warum glauben Sie an die Kraft der KI in der Medizin? Und welche Gefahren sehen Sie?
Die größte Gefahr ist, dass diese hochwichtige Chance, das gute Patienten-Arzt-Verhältnis wieder herzustellen, auf der Strecke bleiben könnte. Und es ist auch vorstellbar, dass es schlechter wird.
Wir haben heute eine ständig wachsende Anzahl von Bedrohungen: Hacker könnten Schadsoftware einsetzen, die Privatsphäre nicht ausreichend geschützt, Algorithmen und Daten missbraucht werden; es besteht die Gefahr, dass Algorithmen unbewusste Vorurteile transportieren, sei es zum Geschlecht, seien es rassistische oder andere unbewusste Vorurteile.
Es gibt viele ethische Fragen, Bedenken über das Ausmaß des KI-Einsatzes oder darüber, ob ein KI-Algorithmus schnell vielen Menschen schaden könnte, wenn er nicht überwacht wird, oder dass es an Validierungsstudien fehlt, um den Wert von KI zu beweisen. Es gibt also viele Punkte, aber alle sind meines Erachtens mit der Zeit lösbar. Meine größte Sorge gilt der Verletzbarkeit der medizinischen Community, wenn die Macht der KI dazu genutzt wird, alles zu verschlechtern.
Der Gesundheitsmarkt bietet verschiedene digitale Trends, zum Beispiel Wearables, Gesundheitsapps oder digitale Therapien. Was wird aus Ihrer Sicht überbewertet?
Am meisten wurde das Thema „Prognose“ überbewertet. Klassifizierung und Einordnung, das sind die Stärken der KI, sie waren vor allem in der Bildauswertung bemerkenswert: bei medizinischen Scans, Bildern aus der Pathologie oder auch von Hautläsionen – überall, wo es Muster gibt, funktioniert Deep Learning. Das ist der tolle Part. Aufgrund solcher retrospektiven Daten kann KI dann auch viel bessere Prognosen treffen, etwa über das Kurzzeitüberleben, die Wiederaufnahme ins Krankenhaus, die Dauer eines Krankenhausaufenthalts oder auch Krankheiten wie Alzheimer.
Schwieriger ist es mit Real-Time-Daten. Hier haben Algorithmen alle möglichen Probleme, was deren Interpretation angeht, daher werden sie aus den Datensätzen abgeleitet. Ich bin der Meinung, dass es bei diesem Thema viel Rauschen gibt, es ist nicht annähernd so fein wie das Bild in der Realität. Es gibt viel Hype darum, viele langfristige Trends prognostizieren zu können, aber es ist bei Weitem noch nicht so klar.
Digitalisierung muss sich mit vielen Themen auseinandersetzen: Interoperabilität, Cyber-Security, Ethik und Transparenz der Algorithmen. Was sagen Sie als Enthusiast neuer Technologien: Welches Thema ist im Gesundheitsbereich das wichtigste?
Meine größte Sorge sind unvollständige Datensätze zum einzelnen Patienten. Es geht also nicht nur um einen Mangel interoperabler Daten. Es geht um die fehlende Gesamtschau: Ein Patient wird viele verschiedene Ärzte in verschiedenen Sektoren sehen – und keiner hat Zugriff auf die gesamten Daten, sozusagen vom Mutterbauch bis heute.
Es fehlt auch an individuellen Daten über die üblichen medizinischen Daten hinaus, etwa genomische Daten und Umweltdaten. Deep-Learning-Algorithmen brauchen so umfassende Daten wie möglich zu einer Person. Zurzeit kommen wir jeweils nur an unvollständige Daten.
Das ist nicht ideal, denn bei den Deep-Learning-Algorithmen geht es um Inputs und Outputs. Solange wir nur unvollständiges Input haben, können wir das Potenzial der KI nicht ausschöpfen.
In Ihrem Buch “The Patient Will See You Now: The Future of Medicine is in Your Hands” beschäftigen Sie sich mit dem Empowerment von Patienten durch die Digitalisierung und mit der Demokratisierung des Gesundheitswesens. Allerdings sind Daten von Smart Devices immer noch unbrauchbar und nicht Teil der elektronische Patientenakte. Patienten, die die Kontrolle über ihre eigene Gesundheit haben wollen, werden als problematisch angesehen. Wie kann das Gesundheitswesens in einer Ära disruptiver Technologien patientenorientiert werden?
Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Demokratisierung ist die Tatsache, dass die meisten Ärzte paternalistisch denken – und die Kontrolle noch nicht an die Patienten abgegeben haben. Sie bringen Patienten, die ihre eigenen Daten erzeugen und mehr Verantwortung übernehmen wollen, keinen Respekt entgegen. Deshalb wollen die meisten Ärzte ihren Patienten immer noch keinen Einblick in ihre Arztnotizen geben, obwohl es ja um den Körper des Patienten geht und im ureigenen Interesse des Patienten ist. Im US-Gesundheitssystem zahlt der Patient dafür seinen Preis.
Wir haben ein echtes Problem mit Paternalismus und müssen dafür sorgen, dass er verschwindet. Wir müssen unbedingt verstehen, dass Daten äußerst übertragbar sind. Elektronische Daten müssen geteilt werden, und im Idealfall besitzt der Patient seine Daten selbst und entscheidet mit wem und wann er sie teilen will; ob das nun um den eigenen Arzt geht oder eine klinische Studie. Vor uns liegt noch ein langer Weg, um die Abhängigkeit der Patienten von Ärzten abzuschaffen.
Das muss aufhören, Ärzte müssen stattdessen sagen: „Wenn du deine eigenen Daten erzeugen kannst und wenn du einen validierten Algorithmus hast, um sie auszuwerten, dann hast du meine Unterstützung.” Vergleichen Sie das mit der Situation heute, wo ein Patient mit seinen eigenen Daten zum Arzt kommt und der Arzt sagt: „Die will ich gar nicht sehen. Die sind Mist.” Wir müssen über diese Unfähigkeit, zu teilen, hinwegkommen. Arztnotizen sollten auch die Notizen eines Patienten sein. Es gibt hier so eine Abschottungshaltung und eine falsche Vorstellung von Besitz. All diese Dinge müssen sich verbessern.
In Ihrer neuesten Publikation, “Deep Medicine”, zeigen Sie, wie Deep-Learning-Algorithmen angewandt auf Wearable-Sensoren, genomische Informationen und medizinische Daten, einen maßgeschneiderten Behandlungsplan erstellen können.
So etwas gibt es heute schon. Digitale Gesundheitslösungen helfen Menschen mit Diabetes beim Selbstmanagement, sie lernen zu verstehen, was ihren Blutzucker aus dem Takt bringt. Das könnte sie dazu bringen, sich mehr zu bewegen, bestimmte Nahrungsmittel zu vermeiden oder mehr zu schlafen.
Digitale Gesundheitsprogramme haben unter bestimmten Voraussetzungen ihre Berechtigung, und das reift dann vielleicht bis zu dem Punkt, an dem wir unsere Daten kontinuierlich zur Verfügung stellen können, wenn wir das wollen. Also nicht jeder, aber wenn jemand eine digitale Gesundheitslösung nutzen will, dann können alle von ihm vorhandenen Daten ausgewertet werden. Das kann dann Asthma verhindern oder Herzversagen; so können wir viele der heutigen Erkrankungen vermeiden, da wir verwertbare Daten haben, Unterstützung durch Algorithmen, die uns Rückmeldung geben.
Und diese Daten, dieser Output, kann dann mit dem Arzt besprochen werden, wenn es nötig ist. Der Arzt sieht uns dann vielleicht nur noch einmal im Jahr oder weniger, während wir unsere Gesundheit von Moment zu Moment unter den Augen haben. Unsere Gesundheit wird dann nicht eine punktuelle Angelegenheit, sondern eine kontinuierliche Geschichte. Der einzige Grund, warum wir noch nicht an diesem Punkt sind, ist, dass wir nicht an die Daten kamen. Jetzt tun wir das.
Das Gesundheitssystem steckt immer noch in alten Strukturen. Ein solches Gesundheitsökosystem mit vielen verschiedenen Stakeholdern ist nicht nur komplex, sondern auch schwer veränderbar. Die Folgen liegen auf der Hand: Digitale Lösungen finden nur langsam in die Praxis, zu langsam, gemessen an unseren Erwartungen. Was braucht es, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu beschleunigen?
Es gibt viele Gründe, warum es sich nur langsam bewegt, die medizinische Community widersetzt sich dem Wandel. Sie weigert sich, Veränderung zu akzeptieren, ob es um jetzt um geringere Rückerstattungen geht, Kontrollverlust, Paternalismus, Autorität, das Loslassen von dieser Autorität und die Macht den Patienten zu geben.
Da gibt es so viele Faktoren, mit einer sich nur langsam bewegenden Berufsgruppe, was den Wandel angeht, aber auch andere Kräfte, die den Wandel noch mehr bremsen. Aber er wird kommen. Wir sehen, wie digitale Technologien nach und nach mehr akzeptiert werden, auch wenn das Übernahmetempo langsamer ist, als es sein könnte.
Für Sie ist die heutige Medizin „seichte Medizin” und KI-getriebene Medizin „Deep Medicine”. Wir werden sich die Dinge für Patienten ändern, wenn „Deep Medicine” weit verbreitet sein wird?
Nun, am wichtigsten ist wohl die gewonnene Zeit, das Geschenk der Zeit, in der der Arzt-Patienten-Kontakt signifikant wächst, im Vergleich zur heutigen Minutenmedizin. Mit KI und ohne Tastatur muss sich der Arzt dann nicht mehr durch elektronische oder papierene Aufzeichnungen und Charts ackern, denn es ist schon alles organisiert.
Er hat Zeit, dem Patienten zuzuhören, anstatt ihn zu unterbrechen, wie das heute schon in den ersten Sekunden nach Beginn des Gesprächs der Fall ist.
Er hat Zeit, die Geschichte des Patienten anzuhören, denn Lebensgeschichten lassen sich nicht digitalisieren, da braucht es immer noch die Mensch-zu-Mensch-Verbindung.
Seichte Medizin ist eine fehleranfällige Medizin. Sie hat wenig Zeit und schaut nicht auf den wertvollen Kontext. Das ist unser Ist-Zustand. Er verrät den eigentlichen Sinn der Medizin, nämlich menschliche Beziehung. Genau an diese Stelle gehört Deep Medicine hin, mit einem größeren Verstehen des einzelnen Menschen durch maschinengestützte Analytik. Es gibt wieder Raum, zuzuhören, nachzufragen, die nötige Sorgfalt walten zu lassen, Mitgefühl und Empathie. All das, was wir heute zu wenig sehen.
Was ist Deep Medicine?
Topol‘s Deep Medicine-Modell
Deep Phenotyping Jeder Mensch ist datenmäßig komplett definiert, indem sämtliche Daten erfasst und zusammengeführt werden, seien es medizinische, soziale, Verhaltensdaten oder Familiengeschichte, bis hin zu den verschiedenen Schichten der individuellen Biologie, inklusive DNA, RNA, Proteine, Mikrobiom und andere.
Deep Learning Ärzte nutzen Mustererkennung und maschinelles Lernen für die Diagnose sowie virtuelles medizinisches Coaching, um Menschen zu einer gesünderen Lebensführung zu bringen. Automatische Inspektion und Analyse stärken die Patientensicherheit in Krankenhäusern, aber auch zu Hause durch Home-Monitoring. Deep Learning wird auch die Entwicklung neuer Medikamente erleichtern und zu Erkenntnissen aus komplexen Datensätzen wie ganzen Genomsequenzen führen.
Deep Empathy Betrifft die Beziehung zwischen Patienten und Ärzten. KI kann das wesentliche menschliche Element medizinischer Praxis wiederherstellen, indem Aufgaben, die gut automatisierbar sind, an Maschinen abgegeben werden, so dass sich Ärzte, Gesundheits- und Krankenpfleger sowie anderes Gesundheitspersonal wieder der echten Fürsorge für Patienten widmen können
Quelle: Scripps Research
Vektorgrafik Header: Shutterstock
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