Wenn man das, woran Sie arbeiten, nach vorne denkt – wo landet man dann? Heute: Dr. Peter Gocke, Chief Digital Officer an der Charité Universitätsmedizin Berlin.
Worin sehen Sie den größten Nutzen digitaler Medizin?
Die heutige Datenverfügbarkeit erlaubt uns nicht nur den Schritt zu einer besseren Medizin, sondern auch zur präventiven Medizin, die Erkrankungen oder Verlaufsverschlechterungen möglichst früh erkennt und Patient:innen vor Schlimmerem bewahrt. Bislang müssen wir ja immer noch warten, bis es den Menschen so schlecht geht, dass sie von selbst zu uns Ärzt:innen kommen.
Gesellschaftlich würde das bedeuten, dass wir vom Reparaturbetrieb zum aktiven Population Health Management übergehen. Wir lesen künftige Morbiditätsentwicklungen und Gesundheitsbedarfe aus Daten ab und agieren präventiv. Etwa, indem alle Bürger:innen, die daran teilnehmen, ab 60 gezielt zur spezifischen Vorsorgeuntersuchungen oder Impfprogrammen eingeladen werden. Persönlich am Telefon oder über eine Nachricht in der ePA-App, samt Terminbuchung.
Wie kann unser Gesundheitssystem zum Population Health Management umgebaut werden?
Indem wir die Finanzierung an den Prozessen ausrichten, die es für die Gesunderhaltung der Bevölkerung braucht, und nicht an der Besitzstandswahrung der etablierten Sektoren. Wir brauchen jetzt den Mut, das System der drei Sektoren – stationäre Versorgung, ambulante Versorgung und öffentlicher Gesundheitsdienst – zu hinterfragen. Gerade im Zuge der Digitalisierung dürfen wir die Medizin der Grenzen und Datenbrüche nicht noch einmal wiederholen. Zusätzlich Bedarf es dringend einer Ausweitung telemedizinischer Angebote, um den Zugang zu medizinischen Services weiterhin breit anbieten zu können.Hier spielen neben den Videosprechstunden auch Strukturen wie z.B. Gesundheitskioske eine zunehmend wichtige Rolle.
Wir brauchen diese Datennutzung übrigens auch mit Blick auf unsere alternde Gesellschaft: Immer mehr Babyboomer scheiden aus dem Berufsleben aus und kommen etwas später als Patient:innen in unsere Krankenhäuser. Dort fehlen heute schon Ärzt:innen und das Pflegepersonal. Am besten wäre es also, wenn die Menschen erst gar nicht mehr ins Krankenhaus kommen müssen. Auch das geht in gewissem Rahmen über die präventive Nutzung von Gesundheitsdaten.
Sollten die Daten aus der Versorgung auch der Forschung zur Verfügung stehen?
Unbedingt, denn schon längst sind Tech-Riesen wie Google oder Amazon auf diesem Feld unterwegs und könnten uns schon bald die Gestaltungsmöglichkeiten aus der Hand nehmen. Deshalb müssen wir die strukturierten Daten sowohl der akademischen als auch der privaten Forschung zugänglich machen. Kein Patient und keine Patientin hat ein Problem damit, Ärzt:innen eigene Daten zu geben, damit sie richtig behandeln können. Wieso sollten dann die passgenauen Medikamente, die sie uns hoffentlich verschreiben können, ohne solche Daten entwickelt werden? Die Angst vor der Weitergabe eigener Daten ist heute oft irrational groß. Der hier gelegentlich benutzte Begriff „Datenspende“ trifft es nicht: Es ist keine Spende. Ich bekomme wieder etwas zurück. Natürlich brauchen wir entsprechende Regularien. Aber die Nutzbarmachung von Daten muss implizit im Gesundheitssystem geregelt sein. Etwa, indem man nur bei ordnungsgemäßer digitaler Dokumentation von hochqualitativen, strukturierten Daten vergütet wird.
Dr. med. Peter Gocke ist der erste Chief Digital Officer (CDO) im deutschen Gesundheitswesen an der Charité in Berlin und leitet dort die Stabsstelle ‚Digitale Transformation‘. 2011 war das UKE Hamburg-Eppendorf mit ihm als Chief Information Officer (CIO) die erste papierlose Klinik in Europas geworden. Peter Gocke ist Leiter des Digital Health and Data Network (DHDN) der EUHA, Mitglied im HIMSS EMEA Advisory Board sowie im Global Advisory Board von KLAS Research und Gutachter für das Bundesministerium für Gesundheit.
Artikel-Bild: Shutterstock
Porträt: Scott Macdonald
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