Dr. Ruth Hecker, Vorsitzende vom Aktionsbündnis Patientensicherheit, ist Fachärztin für Anästhesiologie und Chief Patient Safety Officer der Universitätsmedizin Essen.
Was haben wir aus der Pandemie für die Patientensicherheit gelernt?
Hecker: Zunächst möchte ich etwas Positives nennen: Es gab eine unglaublich hohe Flexibilität beim Personal in Krankenhäusern, Arztpraxen, Pflege- und Seniorenheimen. Die meisten waren es nicht gewohnt, sich regelmäßig so intensiv mit Schutzkleidung zu bekleiden. Auch mussten sich viele in neuen Teams zusammenfinden und Überstunden leisten.
Alle bewiesen eine hohe Flexibilität und ein starkes Änderungsbewusstsein. Es gab eine ganz große Bereitschaft, sich der Aufgabe zu stellen, auch durch ehemalige Pflegefachkräfte, jetzt tätig in der Verwaltung, die zurück auf die Stationen kamen, um zu helfen.
Und was lief schlecht für Patient:innen?
Deutschland war in keiner Weise auf diese Krise vorbereitet. Dabei gab es beim Bund schon Ende 2012 eine Risikobewertung für solch eine Situation. Gesundheit ist unser höchstes Gut und das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht sogar im Grundgesetz.
Dass wir das Gesundheitssystem so kaputtgespart haben, dass wir keinen Puffer mehr für solch eine Krise hatten, das ist erschreckend. Das kann man auch nicht mit dem Verweis auf andere Länder entschuldigen, in denen es nicht besser war. Als reiches Land hätten wir besser auf diese Krise vorbereitet sein können und hätten damit den ein oder anderen Langzeitkranken oder Verstorbenen vermeiden können.
Wodurch kam es zu diesen Fällen?
Wir leisten es uns immer noch, Daten nicht zu erheben, nicht zu prozessieren und nicht auszuwerten. Bis heute kennen wir nicht die genauen Übertragungswege: Wo stecken sich die Menschen an? Unter welchen Bedingungen, z.B.: im Kino, wenn jeder 2. Platz oder 2. Reihe leer bleibt? Das glaube ich eher nicht.
Also liegt die mangelnde Patientensicherheit auch an fehlender Digitalisierung?
Sie steht immer noch nicht dort, wo sie stehen könnte. Viele Praxen und Krankenhäuser sind weiterhin technisch noch nicht auf dem Stand. Was sich im Zuge der Pandemie allerdings deutlich verbessert hat, ist das Thema Videosprechstunde. Die Kontaktaufnahme in einer Krankheitssituation ist leichter geworden.
Und wir sehen jetzt, dass wir vor der Pandemie eine Überversorgung in Krankenhäusern hatten. Denn die Betten bleiben auch jetzt leer, es gibt insgesamt weniger Krankenhauskontakte. Die Ambulantisierung von Krankenhausleistungen ist also richtig und möglich, nur sollte man sie eben nicht, wie jetzt, mit der Brechstange umsetzen..
Was gilt es aus Patientensicht, zukünftig beim Pandemiemanagement zu verbessern?
Die Kommunikation. Die Unehrlichkeit in der ersten Welle fand ich empörend; zu sagen, Masken braucht es nicht, weil man in Wahrheit keine Masken hatte. Auch ist es ein Unding, wenn sich das Robert-Koch-Institut und das Bundesgesundheitsministerium in der Öffentlichkeit widersprechen.
Ich wünsche mir in einer Krise eine Top-Down-Sprache – sonst öffnen wir skeptischen Stimmen Tür und Tor. In solchen Momenten müssen die Führungskräfte in der Politik und die Experten zusammenhalten und mit einer Stimme sprechen.
Man muss ehrlich kommunizieren, was man wirklich weiß, und man muss das so verpacken, dass man es wirklich versteht. Das brauchen wir nicht nur in verschiedenen Sprachen, die in Deutschland häufig gesprochen werden, sondern auch zielgruppenspezifisch aufgearbeitet. Und Wichtiges muss am besten fünf Minuten vor der Tagesschau ausgestrahlt werden, anstelle von Reklame.
Was muss neben der Kommunikation für mehr Patientensicherheit noch angegangen werden?
Das Thema Personal: In einem Hochrisikobereich wie einem Krankenhaus brauchen Sie eine Personal-Reserve, sonst sind Sie im Krisenfall nicht voll handlungsfähig. Dann stehen Intensivbetten leer, weil das dazugehörige Personal nicht da ist. Oder ein Notaggregat fällt aus und Sie haben niemanden, der die Dinge am Laufen hält.
Wir haben jahrelang am Personal gespart, es wurde globalisiert, zentralisiert und importiert – und jetzt haben wir eine riesige Lücke aufgebaut, die wir nicht mehr so einfach wegkriegen. Was machen wir eigentlich, wenn es einen Terrorangriff gibt oder einen Blackout? Sind dazu Ressourcen vorhanden oder Trainings absolviert worden?
Gibt es eine Strategie, die Personalnot zu bekämpfen, auch kurzfristig mit Blick auf die nächste Pandemiewelle?
Ich sehe keine Strategie. Wir müssen zwingend dazu kommen, das gesamte medizinische Personal wertzuschätzen und die Hierarchie zwischen ärztlichem Personal und Pflege abzubauen.
Die Pflege will nicht mehr als Beruf zweiter Klasse behandelt werden. Sie möchte mehr Kompetenzen, sie möchte Augenhöhe. Da arbeiten wir seit Jahren dran und kriegen es nicht hin. Die Pflege ist noch immer nicht im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) vertreten und die Vorständin des Deutschen Pflegerats arbeitet ehrenamtlich … Dabei ist gerade die Pflegefachlichkeit ein Garant für die sichere Versorgung.
Inwiefern ist die Pflege ein Sicherheitsfaktor?
Mehr Pflegekräfte heißt weniger Todesfälle, das zeigen Studien. 80 Prozent der Fehler, die in unseren Krankenhäusern zu vermeidbaren Schäden führen, sind kommunikationsbedingt: nicht richtig verstanden, nicht richtig gehört, nicht richtig gelesen, nicht richtig ausgedrückt. Patient:innen werden vergessen, Medikamente verwechselt. Das liegt auch an zu viel Stress oder Müdigkeit auf Stationen, in den stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen mit zu wenig Personal.
Was würden Sie also tun, damit Patient:innen sicherer versorgt sind?
Wir müssen insgesamt viel präventiver denken und überlegen, welche Krisen auf unser Gesundheitssystem zukommen könnten:
- Sind wir auf einen Terroranschlag oder einen Blackout vorbereitet?
- Wie verteilen wir dann eigentlich die Patient:innen auf Krankenhäuser und ambulanten Einrichtungen?
- Haben wir einen Plan oder laufen wir da wieder blind rein?
Warum simulieren wir das nicht wie Banken, Atomkraftwerke, der Flugverkehr oder Ölplattformen ihre Risiken simulieren? Im Gesundheitswesen wird vielleicht einmal eine Reanimation simuliert, aber nicht eine Großkrise in einer Region.
Wer müsste bei der Simulation einer solchen Krise vorangehen?
Das kann der Bund alleine nicht bestimmen. Die regionalen Gesundheitskonferenzen müssen sich zusammensetzen und „Krise denken“. Der Bund könnte vielleicht sagen: Jedes Land muss soundsoviele Simulationen zu diesen oder jenen Themen durchgeführt haben. Das kostet natürlich Geld und muss organisiert werden. Das ist Prävention und Prävention ist die beste Patientensicherheit.
Wer Patientensicherheit ernstnimmt, denkt sie immer mit und macht Risikobewertungen für Zukunftssituationen. Aber leider wird in Deutschland vieles zerredet, anstatt einfach anzufangen. Wir haben immer diese Ängste. Niemand will sich verändern. Dabei kann Veränderung auch eine Chance sein. Die Chance ist nicht gegeben, wenn man sich nicht bewegt.
Grafik: Shutterstock
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